: Gemüsebrei als Lohn
Kinderarbeit soll Berliner Kindergärten finanzieren
BERLIN taz ■ „Um es gleich direkt heraus zu sagen: Berlin ist pleite. Die Kinder müssen arbeiten.“ Die Füße lässig auf seinem Schreibtisch platziert und mit einer dicken Zigarre im Mundwinkel liegt Dr. Hartmut Sandbaumhüter, der Leiter der Berliner Senatsverwaltung für Familie, Jugend, und Sport, in seinem schweren ledernen Chefsessel. „Das Projekt ist denkbar einfach.“ Im Streit um die geplanten Erhöhungen der Gebühren für Kindertagesstätten hat der Berliner Senat jetzt ein neues Modell vorgestellt: Angepeilt ist eine kommerzielle Zusammenarbeit mit der internationalen Kastanientierchen-Industrie.
Kevin ist vier Jahre alt und schmächtig. Tiefe Ringe zeichnen sich unter seinen großen Kinderaugen ab. Schon am frühen Morgen um 10.30 Uhr sieht man ihn in gebückter Haltung durch den Volkspark Friedrichshain streifen. Kevin muss Kastanien sammeln. Er arbeitet für die Kastanientierchen-Industrie. Fünf Stunden täglich, fünf Tage in der Woche, vier Wochen im Monat, bei Wind und Wetter muss er Kastanien sammeln, Eicheln auflesen, Streichhölzer brechen, Löcher bohren … Als Lohn erhält er jeden Mittag eine Schale Gemüsebrei. Kevins Schicksal ist leider kein Einzelfall. Denn Kevin besucht die Kita „Glückliche Sonnenblume“, eine von drei Tagesstätten, in denen das neue Modell bereits versuchsweise angewandt wird.
„Das Prinzip ist doch ganz einfach“, erklärt Sandbaumhüter und bläst eine dicke Qualmwolke aus, „der Betrieb der Kitas kostet Geld, und das Geld muss ja irgendwo herkommen. Wir haben die perfekte Lösung gefunden: Die Kinder arbeiten in zwei Schichten. Die erste Schicht geht zwei Stunden sammeln, während die zweite Schicht die bereits gesammelten Kastanien und Eicheln zu diesen komischen Pferdchen zusammenbaut. Dann wird gewechselt. So stellen wir sicher, dass jedes Kind auch mal an die Luft kommt. Die fertigen Produkte verkaufen wir dann zu hohen Preisen international auf den unzähligen Herbstbasaren. Kindergartenkinder sind für die Kastanientierchen-Herstellung wegen ihrer kleinen, geschickten Hände besonders geeignet. Saubere Lösung. Man könnte natürlich auch kleine Frauen nehmen, aber die kosten dann gleich wieder.“
Ein Besuch in der „Glücklichen Sonnenblume“ zeigt jedoch deutlich, wie diese „saubere Lösung“ in der Realität aussieht. Dort sitzen die Kleinen an niedrigen Tischchen und arbeiten sich stundenlang ab – ein Kastanienpferdchen nach dem anderen entsteht. Geschuftet wird im Akkord und in Vierergruppen. Ein Kind bohrt die Löcher in die Kastanie, ein zweites bricht Streichhölzer zurecht, das dritte steckt die Bein- und Hals-Hölzchen in die Löcher und das letzte pfropft eine Eichel als Kopf darauf. Wenn ein Team nicht schnell genug arbeitet, müssen zur Strafe alle Teams sämtliche Strophen von „Meine Tante aus Marokko, ja die kommt, hiphop“ singen. Die Kinder wirken erschöpft und apathisch – der Anblick ist zum Steinerweichen.
Doch Dr. Sandbaumhüter kennt kein Pardon. „Ach was“, entgegnet er auf die Nachfrage, ob den Kindern nicht zu viel zugemutet werde und ob eine derartige Behandlung sich nicht schädlich auf die Entwicklung von Psyche und Wachstum auswirken werde. „Ach was! Im Gegenteil: Je früher die kleinen Satansbraten lernen, wo beim Leben der Hammer hängt, desto besser, sie werden es uns noch danken!“ Bleibt zu hoffen, dass Dr. Hartmut Sandbaumhüter mit dieser Einschätzung Recht behalten wird.
Im Park treffen wir wieder den kleinen Kevin bei der Arbeit. Er zeigt uns ein Bild, das er heimlich gemalt hat und bei sich trägt: Das Bild zeigt eine lachende Sonnenblume vor einem großen dunklen Kastanienbaum …
CORINNA STEGEMANN
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