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BERLINER PLATTENDas musikalische Latte-Programm: als geschmackssicherer Kirmes-Pop mit Kissogram und dem bewährten Maximilian Hecker mit zusätzlicher innerer Mitte

Oberflächlich betrachtet mögen jene Menschenexemplare, die den Friedrichshain durchstreifen und die zwischen Kreuzberg und Prenzlauer Berg gelegenen Ebenen bevölkern, sich nicht wesentlich von dem seit Jahrtausenden in freier Wildbahn vorkommenden Homo Sapiens unterscheiden.

Doch intensive zoologische Studien haben nun ergeben, dass sich in diesem eng abgegrenzten Gebiet eine neue Gattung herausgebildet hat: Den Homo Irgendwiekreativus zeichnet eine meist lückenhafte Erwerbsbiografie aus und eine zuletzt epidemisch um sich greifende Zeugungsbereitschaft. Er trinkt Latte Macchiato, isst Pasta und hört Musik: Am liebsten von um der Ecke und ein bisschen melancholisch, also Kissogram und Maximilian Hecker.

Dabei präsentieren sich Kissogram auf ihrem neuen Album „Rubber & Meat“ zum Trio gewachsen. Sebastian Dassé und Jonas Poppe haben sich mit dem Schlagzeuger Joe Dilworth verstärkt, der schon mal bei Branchengrößen wie Stereolab oder Add N to (X) trommelte. Mit ihm wird der Kissogram-Sound entschieden rockiger. Die elektronische Eleganz früherer Aufnahmen, die bisweilen wie ein vertonter Film noir klangen, schimmert aber nur mehr selten durch die von quietschenden Synthesizern dominierte Tracks. Endgültig seltsam wird der neue Ansatz in einem Song wie „Bucharest“, durch den immer wieder ein wohl osteuropäisch gemeintes Keyboard-Riff fährt. Tatsächlich klingen Kissogram nicht mehr luxuriös und verführerisch schimmernd, sondern stattdessen in voller Absicht ein wenig billig und auf den offensichtlichen Effekt bedacht. Wo dereinst hintergründiger Humor funkelte, blitzt nun bisweilen zynischer Witz, der auch vor vergleichsweise populistischen musikalischen Scherzen nicht zurückschreckt. Dieser Kirmes-Pop ist immer noch verdammt geschmackssicher, aber dass er nicht abrutscht ins Lächerliche, haben Kissogram vor allem ihrem Songwriting zu verdanken, das in den allermeisten Fällen immer noch besser ist als das der Konkurrenz.

Seine Songs waren schon immer das Qualitätsmerkmal von Maximilian Hecker. Der hat nun endgültig eine Phase überstanden, in der er zum melancholischen Wundersänger aus der Hauptstadt hochgejazzt werden sollte, und ist mit seinem fünften Album „One Day“ endgültig in einem selbstgewissen Singer/Songwriter-Kosmos angekommen, in dem Hecker vor allem um Hecker kreist. Die Selbstfindung fand, wo auch sonst, auf einer Reise durch Asien statt. Dort hat der 31-Jährige in Taiwan und Südkorea Plattenverträge unterschrieben, sich einen gewissen Starstatus ersungen und zudem eine innere Mitte gefunden, die der bereits vorher nicht gerade zur Hektik neigende Hecker auf ein Neues in einigermaßen melancholische Songs umsetzt. Die glänzen mit gewohnt berückenden Melodien und handeln davon, wie man den Sommer verschwendet, von unter Wasser lebenden Fräuleins und von der unvermeidlichen Liebe – mal als Gift, mal als Behausung. Dazu schlürft sich ganz vorzüglich ein Rotwein aus biologisch kontrolliertem Anbau. THOMAS WINKLER

Kissogram: „Rubber & Meat“ (Louisville/Roadrunner/Warner)

Maximilian Hecker: „One Day“ (Louisville/Roadrunner/Warner), live am 2. 4. im Lido

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