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Danziger Tagebuch (2): Montag, den 27.10.03Auf der Suche nach Brutstätten und Besessenen

Diese Wurst! Ein Naturgesetz. Zum Frühstück und zum Abendbrot gibt es in Danzig immer eine in kreisrunde Scheiben – Durchmesser: etwa fünf Zentimeter – geschnittene hellrosa Wurst mit weißen und rötlichen Einsprengseln und orangenem Rand. Bei den Buffets zwischendurch auch.

Kulturhauptstadtbewerbungsintendant Martin Heller ist gestern eingeschwebt, von Zürich über Warschau nach Danzig. Und Uli Fuchs, der im Projektteam die Zweitbesetzung von Heller gibt, ist schon seit Samstag da. Zwei, die sich verstehen.

Jetzt ist Ochsentour angesagt: Es werden Brutstätten und Besessene gesucht, die der Bremer Bewerbung das dringend benötigte hanseatisch-europäische Flair einatmen können. Kein Treffer: Der Stadtmuseumschef. Er gratuiert erst einmal Bremen für den Brost-Preis. Schließlich habe Bremen „die Punkte abgehakt“. Was sein Museum betrifft, erweist er sich als derart besessen, dass die Augenlider der Entscheidungsbefugten zu flirren beginnen. Die heißeste Info ist, dass die Engländer den genialen Hevelius nicht gebührend würdigen und sein Porträt verkauft haben. Hevelius‘ Verdienst scheint zu sein, dass er eine Winteransicht Danzigs gemalt hat. Knallige Story.

Später singen in einem Freizeitheim „schwierige Jugendliche“ Eigenkompositionen. Das Gebäude habe früher dem Großvater von Schopenhauer gehört, heißt’s. Ein Referenzprojekt? Das denn nun doch nicht. Fuchs wiegelt ab, ohne dass es die auffällig hübsche Projektleiterin bemerken würde...

Dafür aber hat die ehemalige Lenin-Werft, jetzt stillgelegt, kulturell interessierte Privatinvestoren gefunden. Ein Theaterprojekt, eine Stiftung für Aktuelle Kunst und ein Profi-Tonstudio mit Didgeridoos und Gongs sollen dafür sorgen, dass sich Infrastruktur im Riesengelände ansiedelt – und die Mieten steigen. Nicht besessen und wohl kaum eine Brutstätte: die wunderbare Innenstadt. 90 Prozent durch britisch-sowjetisch-amerikanische Bomben zerstört, dann alles wieder aufgebaut. Herrlich spiegelt sich die baltische Sonne über der Motława. Eigentlich sollte Danzig Kulturhauptstadt werden.

Abends tingeln der gute Marek, Danziger Tenor und Orchestermanager, sowie Jashmed Saberi, der beim Kultursenator für internationalen Kulturaustausch zuständig ist, durch echte Künstlerkneipen. Kulturhauptstadt? Killefitz. Saberi tätigt indes geheime Milliardengeschäfte mit Usbekistan. Und auch die Vertreter der Cappella Gedanensis hoffen, mit ihm aufs richtige Pferd gesetzt zu haben. bes

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