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Serben wählen zwischen Boykott und Verrat

Im Kosovo wollen die meisten Serben heute die Wahlen boykottieren, womit sie sich um neue Möglichkeiten bringen

PRISHTINA taz ■ Die heutigen Wahlen im Kosovo als „Schicksalswahlen“ zu bezeichnen, wäre vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Doch haben diese zweiten Parlamentswahlen nach dem Nato-Krieg gegen Serbien und der Etablierung eines UN-Protektorats 1999 eine besondere Bedeutung. Denn die UN muss im nächsten Jahr eine Entscheidung über den langfristigen Status des Kosovo fällen. Da kommt es schon darauf an, wer vom Kosovo aus zu Verhandlungen befugt ist.

Die grundsätzliche Konstellation ist seit Jahren unverändert. Die übergroße Mehrheit der Albaner im Kosovo, die 90 Prozent der 1,3 Millionen Wahlberechtigten stellen, will Kosovos Unabhängigkeit von Serbien. Gerade dies wollen die übergroße Mehrheit der serbischen Minderheit sowie viele serbische Politiker in Belgrad verhindern.

Die konservativ-nationalistische Regierung unter Vojislav Koštunica und die orthodoxe Kirche in Belgrad rufen die Serben Kosovos auf, die Wahlen zu boykottieren. Der proeuropäisch denkende Staatspräsident Boris Tadić jedoch rät den serbischen Kosovaren zur Teilnahme. Die Konservativen wollen mit dem Boykott die UN an einer Entscheidung über den Status des Kosovo hindern, die anderen wollen, dass die Kosovo-Serben die Realitäten akzeptieren und konstruktiv an politischen Lösungen auf lokaler Ebene mitarbeiten, was konfliktentschärfend sein könnte.

Auch der Chef der UN-Mission im Kosovo, Soren Jessen-Petersen, versuchte, die Serben von der Wahlteilnahme zu überzeugen. Denn da ihnen ohnehin 10 der 120 Sitze zustehen – 10 weitere sind für Roma, Goranj, Bosniaken und Türken vorbehalten – könnten durchaus noch mehr Sitze drin sein. Zusammen mit den anderen Minderheiten und den liberalen Parteien der Albaner könnten die Serben so im Parlament durchaus eine Rolle spielen, sogar als Koalitionspartner in Betracht kommen.

Doch die rund 100.000 Serben, die noch in Enklaven leben, sind desorientiert. Umso mehr nach den antiserbischen Demonstrationen vom März, bei denen nach neuesten offiziellen Zahlen 21 Menschen – zwölf Albaner und neun Serben – starben. 4.000 Serben wurden aus ihren Häusern vertrieben. Die meisten Serben fühlen sich von allen Seiten im Stich gelassen. Und nationalistische Extremisten behandeln jene als „Verräter“, die abstimmen wollen.

Dabei gäbe es realistische Chancen für Fortschritte, weil sich auch bei den Albanern politisch etwas bewegt. Zwar werden die stärksten Parteien, die „Demokratische Liga Kosova“ (LDK ) des Präsidenten Ibrahim Rugova und die „Demokratische Partei Kosova“ des Ex-UÇK-Führers Hashim Thaci, wohl ihre führenden Positionen behaupten können. Sie rechnen mit jeweils um die 30 Prozent der Stimmen. Doch mit der neuen Partei ORA (Die Stunde) des millionenschweren Verlegers und Menschenrechtlers Veton Surroi ist eine ernsthafte neue Kraft entstanden. Vor allem die alten, bürgerlichen Familien der Städte, Studenten und andere aufgeklärte junge Leute wollen für Surroi stimmen. So könnte ORA zumindest in den Städten zweistellige Ergebnisse erreichen. Chancen auf Parlamentssitze hat auch noch die Liberaldemokratischen Partei der Ex-Außenministerin des albanischen Schattenstaates, Edita Taherider, die sich von der LDK trennte. Dagegen befindet sich die bisher drittstärkste „Fortschritts-Partei“ des früheren UÇK-Führers Ramush Harandinaj im Niedergang.

Auch die Basis der beiden stärksten Parteien könnte bröckeln, da sie in der bisherigen Koalitionsregierung die Wünsche ihrer Klientel nach Jobs und Einfluss nicht voll befriedigen konnten. Da sich auch bei diesen Parteien junge Politiker nach vorn drängen, könnte das neue Parlament ein liberaleres Gesicht bekommen, was den Minderheiten neue Möglichkeiten geben könnte. Die Serben müssten diese Chance nur ergreifen.

ERICH RATHFELDER

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