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schwabinger krawall: das neue rad und der mittelfinger von MICHAEL SAILER

Gegen ein neues Fahrrad hätte Herr Reithofer eigentlich nichts einzuwenden gehabt. So etwas ist eine sinnreiche Anschaffung, wenn man fünf Hosen an der rostigen Klapperkette ruiniert, den Gepäckträgerbügel samt Feder abgerissen hat, dreimal mit dem Gesicht erst auf die Lenkstangenhalterung und dann in den Kies geflogen ist, weil die Schraube sich weder auf- noch zudrehen lässt, wenn der alte Ledersattel aussieht wie ein Eichkätzchen, das von einem Sattelschlepper überfahren worden ist, und überhaupt das alte „Brandenburg“ aus einer Zeit herstammt, als man einen König resp. Kaiser gehabt hatte.

Aber es hat alles seine Grenzen: Wulstige Schweißnähte sind inakzeptable Substitute für die gewohnten Rohrgestecke, Leichtmetall geht sowieso nicht, und ein Gelee gehört auf den Pfannkuchen, aber nicht in einen Sattel hinein. Der Fahrradhändler verzweifelt: Herr Reithofer könne doch die Errungenschaften moderner Technik nicht ignorieren. Das könne er wohl, sagt Herr Reithofer. In Paris breche der Flughafen auseinander, am Starnberger See zerbrösle es die nagelneuen Millionenschiffe, auf den Autobahnen rasten Elektronikmonster mit plötzlich außer Kraft gesetzten Computerbremsen herum, selbst die Weltraumstationen seien bloß mehr Schrott – da lasse er sich nicht zwingen, seine Gesundheit und sein Leben einem Modegestänge anzuvertrauen.

Das lässt er am Ende notgedrungen doch. Das neue Rad ist auch vorzüglich gefahren, und dass Herr Reithofer außer seinem Vorderrad wenig gesehen hat, weil man sich auf diese neuen Räder draufbuckeln muss wie beim Bodenschrubben, war ihm vorderhand einerlei, schließlich gibt es auf der Schleißheimer Straße sowieso nichts Erfreuliches zu sehen. Dann ist er aber in eine Einbahnstraße eingebogen, und da hätte er das Schild und den entgegenkommenden Wagen im Nachhinein doch ganz gern gesehen. Letzterer machte keine Anstalten, dem schlingernden Herrn Reithofer auszuweichen, sondern fuhr mitten in ihn hinein, schmiss ihn vom Rad, ließ sodann das Seitenfenster heruntergleiten, aus dem der kahl rasierte Fahrer herausbellte: „Sie gefährden sich und andere!“

Da waren Herrn Reithofer Schweißnähte ebenso egal wie der Lauf der Welten und überhaupt alles; ein Leichtmetallgestänge hat immerhin den Vorteil, dass es sich besser als Wurf- und Schlagwerkzeug eignet als ein zentnerschwerer Drahtesel aus der Vorkriegszeit. Dummerweise ist er bei dem Vergeltungsversuch mit dem linken Mittelfinger im Gabelschaftrohr hängen geblieben und gestolpert, woraufhin er als eine Art menschlicher Schrotthaufen scheppernd einen solchen Lärm verursacht hat, dass ein Anwohner die Polizei und diese die Feuerwehr rief, der es weder mit Schmierstoffen noch mit Eis gelang, den ballonartig angeschwollenen Mittelfinger zu befreien. Erst als ein resoluter Feuerwehrmann einen Trennschleifer anbrachte, ist die Schwellung schlagartig abgeklungen, Herr Reithofer aus dem Stangenensemble heraus- und sofort in Ohnmacht gefallen.

Seitdem sieht man ihn täglich im Hinterhof an seinem alten „Brandenburg“ herumschrauben und -polieren, und dabei macht er ein irgendwie frohes, fast seliges Gesicht.

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