: In der Wartheschleife
Die Warthestraße in Nordneukölln hat einige Probleme: Viele Migranten und Stützeempfänger leben hier, besonders Jugendliche haben kaum eine Perspektive. Manche reagieren mit Gewalt. Das Jugendprojekt „Warthe 60“ versucht sie von der Straße zu holen. Das ist schwer, aber nicht aussichtslos
von ULRIKE LINZER und ANNA MECHLER
„Alle raus hier. Wir brauchen jetzt mal 10 Minuten Pause“, erklären erschöpft die beiden Sozialarbeiter des Jugendprojekts „Warthe 60“, Henk Göbel und Judith Göde. Argumentierend und schimpfend schieben sie die Jugendlichen nach draußen und schließen die Tür von innen zu. Die Jugendlichen lamentieren draußen weiter, lachen und fluchen abwechselnd und beschweren sich über Ungerechtigkeit – aber sie verstehen die Regeln.
Das Quartiersmanagement-Projekt trägt die Hausnummer 60 in der Warthestraße in Nordneukölln, manche bezeichnen die Gegend als Problemkiez. Viele Migranten leben hier, viele Leute beziehen Sozialhilfe, die meisten Jugendlichen haben kaum eine Perspektive. Was kann Jugendarbeit hier leisten?
Zwei Stunden hat die Diskussion mit den argumentierenden, besser: wild durcheinander schreienden Teenagern gedauert. Während die beiden Sozialarbeiter das Konzept erklärten, gewaltbereite Kids von der Straße zu holen, stand alle zwei Minuten ein anderer Junge mit einem neuen Vorwand im Raum. Schließlich dann doch die Diskussion mit allen am großen Holztisch im Aufenthaltsraum: „Schreiben Sie auf, dass wir neue Computer brauchen“, diktiert einer. Sie bräuchten Internetzugang, ein anderer. „Da gibt es gute Lernsoftware“, fügt sein Kumpel gerissen hinzu. „Über Physik oder Chemie und so“. Geschickt versuchen sie, Vorteile für sich herauszuholen. Oder Beschwerden loszuwerden. Sie sind schlau, laut, schlagen sich durch, haben einen Plan. Und sei es erstmal nur, Internet zu bekommen.
Kommt man vom U-Bahnhof Leinestraße die Hermannstraße entlang, die von Passanten, Verkehr und Trubel erfüllt ist, ist es fast unheimlich still in der angrenzenden Warthestraße. Nur wenige Geschäfte gibt es, kaum Autos, vereinzelt eilen Anwohner vorbei. Nur in den zwei Kiezkneipen geht es hoch her, hier trifft sich die deutsche Community zum Frühschoppen. „Wer es sich leisten kann, zieht weg“, erzählt ein deutscher Mann Anfang 30 auf dem Gehsteig. Er ist wegen der großen Wohnung mit günstiger Miete hergezogen. „Aber sobald wir Kinder bekommen, verlassen wir den Bezirk.“ Genau das ist das Problem der Warthestraße. Die Kriminalitätsrate ist hoch, viele Menschen ziehen weg und kaum neue zu.
Die Zusammensetzung der Bevölkerung birgt Probleme. „Wir haben Projekte zur Sprachförderung und Integration. Doch ein großes Problem ist, dass viele der hier lebenden Migrantenfamilien aus Palästina, Bosnien oder Marokko kein Bleiberecht haben. Sie leben in der ständigen Angst, abgeschoben zu werden. Und das zum Teil schon seit 15 Jahren“, sagt Quartiersmanager Detlef Jeschke.
Das geförderte Projekt „Warthe 60“ besteht seit knapp zwei Jahren. Es versucht, gewaltbereite Jugendliche von der Straße zu holen. Sie bekommen Hilfe bei den Hausaufgaben, spielen Theater, kochen und lernen, zu diskutieren. „Die kümmern sich um uns, damit wir auf der Straße keinen Scheiß mehr machen“, erklärt ein marokkanischstämmiger Teenie altklug.
Den machen sie natürlich trotzdem. Die Stimmung ist oft geladen, und die Sozialarbeiter haben Mühe, die Jugendlichen zu bändigen. „Wer es übertreibt, bekommt erst eine Verwarnung, dann eine Mahnung oder auch für den Tag Hausverbot“, so Henk Göbel. Seine Kollegin Judith Göde ergänzt: „Aber die angebotenen Gespräche zur Gewaltprävention werden oft genutzt. Für viele Kinder ist es vollkommenen neu, Konflikte durch Diskussion und nicht mit Gewalt zu lösen.“ Ihre Integrationsarbeit falle oft schwer, da viele der Migrantenfamilien sehr zurückgezogen leben, sich nicht kennen und das auch nicht wollen.
„Und in welche deutsche Gemeinschaft können sie sich überhaupt integrieren? Woran sollen sich die hier lebenden Migranten orientieren? Im Kiez hängen meist nur betrunkene Arbeitslose herum“, meint Sozialarbeiter Göbel. Da viele nur einen Duldungsstatus haben, der alle sechs Monate verlängert werden muss, seien Eltern und Kinder verunsichert. „Die Perspektive, nicht arbeiten zu dürfen, dämpft die Motivation, die Sprache zu lernen und sich besser zu integrieren.“
Die Sozialpädagogen aus der „Warthe 60“ versuchen, über die Kinder auch die Eltern zu erreichen. „Ein Großteil hat Angst vor allen deutschen Institutionen. Manche verwechseln uns sogar mit einer Behörde, von der sie ausgewiesen werden könnten.“ Einmal im Monat wird deshalb zum Elternfrühstück geladen. Auch, um eine Möglichkeit für die einzelnen Familien zu schaffen, sich kennen zu lernen. „Inzwischen ist der Kiez friedlicher geworden, die Jugendlichen dominieren nicht mehr die Straße“, erklärt Martin David, Regionalbeauftragter der Kinder- und Jugendförderung Nordwest. „Die Warthe 60 leistet gute Arbeit und ist akzeptiert im Kiez.“
Zwei Häuser weiter, in Hausnummer 62, wird der Eingang von Kameras überwacht, durch schwere Türen und genaue Fragen der Zutritt kontrolliert. Hier ist seit sechs Jahren eine Kita angesiedelt. Die Kameras wurden nach einer Serie von Überfällen durch Kinder installiert und haben sich bewährt. „In der Gründungszeit kamen Kinder zweier arabischer Familien mehrfach herein und haben alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest war“, berichtet die Leiterin. Die seien regelrecht organisiert gewesen – unmöglich, dagegen an- oder hinterherzukommen.
Auch sonst brodelt hier das Fass leicht über. Der Migrantenanteil liegt in der Einrichtung bei 82 Prozent, insgesamt kommen Kinder aus 13 verschiedenen Nationen. Sie sprechen verschiedene Sprachen und noch nicht gut Deutsch. „Vieles läuft unter den Kindern über Gewalt, weil sie es von zu Hause nicht anders kennen oder weil sie sich nicht anders zu verständigen wissen“, sagt die Kitaleiterin. In Sprachprojekten werden sie über Gesang und Spiele mit der deutschen Sprache vertraut gemacht. Die Grund- und Verbindungssprache soll Deutsch werden.
„Schon früh sollten die Kinder damit umgehen lernen, dass sie sich außerhalb ihrer Familie dem deutschen Wertesystem anpassen müssen“, fordert Regionalbeauftragter David. In den Kinder- und Jugendclubs werden sie mit Regeln und Grenzen konfrontiert, die sich von denen zu Hause unterscheiden.
Dafür müssen sich die Sozialarbeiter oft den Mund fusselig reden, Temperamente zügeln und Aggressionen drosseln. Aber Kinder lernen schnell, noch dazu wenn sie so clever und gerissen sind wie die am runden Tisch der Warthe 60. „Warum wir hier herkommen? Weil wir nichts anderes vorhaben“, sagt einer. „Damit wir auf der Straße keinen Scheiß mehr machen“, schneidet ihm sein Kumpel das Wort ab. Die Wahrheit liegt wohl dazwischen.
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