piwik no script img

Vernunft und Religion

Holland ist überall (3): Muslime müssen ihre eigenen Traditionen kritisch beleuchten. Nur so können sie der Ausgrenzung des Islams aus dem europäischen Denken begegnen

Nicht selten werden die Muster des antisemitischen Diskurses heute auf die Muslime angewandt

Vielen Vordenkern der europäischen Aufklärung erschien der Islam als die Vernunftreligion schlechthin. Ende des 18. Jahrhunderts schien die Türkengefahr gebannt, nachdem die Heere des Sultans 1683 vor Wien zurückgeschlagen worden waren. Die koloniale Unterwerfung der islamischen Welt aber hatte noch nicht begonnen. Diese kurze Ära der Entspannung zwischen Morgen- und Abendland brachte eine spannende Kultur der Annäherung hervor. Angst und polemische Distanzierung wichen Neugier und Empathie.

So konnte Lessing seinen weisen Nathan entwerfen, Mozart seinen Türkenmarsch komponieren und Goethe ein „Mahomet“-Gedicht niederschreiben. In Istanbul erfreute sich die Mode der „Ungläubigen“ großer Beliebtheit bei den Damen der Oberschicht. In dieser Erholungsphase zwischen den aggressiven, von Kriegen durchzogenen Epochen davor und danach blitzte für eine Weile die Utopie des Humanismus, die Möglichkeit einer Verständigung zwischen unterschiedlichen Religionen und Kulturen auf. Das Allgemeinmenschliche und die gemeinsamen Wurzeln monotheistischer Religionen traten in den Vordergrund – eine Basis, auf der Kant seine Vorstellung von der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ entwickeln konnte.

Aus vielerlei Hinsicht erschien der Islam den Künstlern und Gelehrten als jene Religion, die der aufklärerischen Seele am nächsten stand. Er kannte keine Kirche und keine Mittler zwischen Schöpfer und Geschöpf, sein Gottesbild war schlicht und abstrakt, seine Glaubensinhalte weitgehend rational erfassbar, er verteufelte die Sexualität nicht. Vor allem aber hatte er durch die Rezeption der altgriechischen Philosophen als einzige Religion einen kritischen Rationalismus hervorgebracht und somit den Grundstein für die abendländische Scholastik und die spätere Renaissance gelegt. In seiner Blütezeit vom 8. bis zum 13. Jahrhundert war er die übersetzende Religion, die zwischen dem Geist der Antike und dem Monotheismus, zwischen der griechischen und der semitischen Welt kreativ vermittelte. Zudem nahm er vor allem in seinen mystischen Ausrichtungen Impulse aus der geistigen Welt Persiens und Indiens auf.

Ein Eklektizismus, der nur deshalb entstehen konnte, weil ein bestimmtes Maß an Pluralismus und freisinnigem Denken toleriert wurde und die dogmatischen Rechtsschulen und ihre geistlichen Würdenträger ihre totalitäre Herrschaft noch nicht ausüben konnten. 1258 wurde Bagdad, damals eine Millionenstadt mit hoch entwickelter Infrastruktur, von den Mongolen geplündert. In den Bibliotheken gingen tausende Werke in Flammen auf. Die Reconquista, die christliche Rückeroberung Spaniens, die Ende des 15. Jahrhunderts abgeschlossen wurde, löste die letzten Refugien des freien Denkens in der islamischen Welt auf. Es folgte in Europa die finstere Epoche der Inquisition, der Mauren- und Judenverfolgung.

Wer heute das Gespräch mit Muslimen sucht, sollte sich an diese Geschichte erinnern und nicht so tun, als sei das christliche Erbe Europas identisch mit den Werten der Aufklärung. Das christliche Abendland hat ähnlich wie das muslimische Morgenland eine in sich widersprüchliche Kultur hervorgebracht, die sowohl wortgetreue und dogmatisch fixierte Lesarten der Glaubensüberlieferungen als auch freie Interpretation sowie die künstlerische, ästhetische Umsetzung des religiösen Erbes umfasst. Wie töricht ist es heute, angesichts dieser Komplexität, den Islam jenen Kräften zu überlassen, deren kultureller Analphabetismus und arrogante Ignoranz, Gewalt und Barbarei produziert. Der muslimische Analphabetismus und die christliche Arroganz gepaart mit kultureller Amnesie schaffen ein karikaturhaftes Bild der islamischen Kultur, reduziert auf das Kopftuch und das bluttriefende Schwert des Dschihad.

Es ist die Aufgabe der Muslime, durch eine geistige Anstrengung diesen Teufelskreis der gegenseitigen polemischen Wahrnehmung zu durchbrechen. Diese Anstrengung fällt schwer – einerseits, weil der muslimischen Welt das Rüstzeug dazu fehlt. Die Jahrhunderte lange geistige Vertrocknung hat tiefe Spuren hinterlassen; die meisten Bildungsinstitutionen sind in einem jämmerlichen Zustand. Geistige Produkte können eben nicht mit Petrodollars erworben werden wie Waffen. Andererseits aber handelt auch die christlich-abendländische Welt kontraproduktiv.

Die Ausgrenzung des Islams aus der eigenen Geistesgeschichte, die als Basis für die Kolonisierung der islamischen Welt diente, ist keineswegs aufgegeben worden. Längst vergessen ist die empathische Annäherung aus der Epoche der Aufklärung. Nicht selten werden die Muster des antisemitischen Diskurses heute nicht mehr auf die Juden, sondern auf die Muslime angewandt. Dunkelhäutige Menschen aus einer fernen, finsteren Zeit bedrohen das weiße, aufgeklärte Europa. Der Rassismus braucht heute keine pseudowissenschaftliche Grundlage wie in der Vergangenheit, er ist eine Gefühlsregung, ein instinktiver Akt der Ausgrenzung. Es hat manchmal den Anschein, als wolle man die radikalen Randerscheinungen der muslimischen Glaubensgemeinschaft als Vorwand nutzen, um die säkulare muslimische Kultur nicht wahrnehmen zu müssen.

Die muslimische Gemeinschaft braucht dringend eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Traditionen, die bei einer umfassenden Entdeckung des eigenen heterogenen kulturellen Erbes ansetzen muss und nicht Halt machen darf, wenn es um Tabus geht, die andere Menschen oder Glaubensvorstellungen diskriminieren. Sie braucht aber auch Gesprächspartner, die aufrichtig an einer Anerkennung und Integration der Muslime interessiert sind. Eine solche offene Auseinandersetzung gedeiht nur in einer Gesellschaft, die akzeptiert, dass sie nicht mehr monokulturell und monoreligiös strukturiert ist, und im kulturellen Pluralismus nicht nur eine Chance, sondern auch eine Stütze für Demokratie und Freiheit sieht.

Der Analphabetismus der Muslime und die christliche Arroganz reduzieren den Islam auf eine Karikatur

Auch nach vier Jahrzehnten Einwanderung fehlen hierzulande Bildungseinrichtungen, die muslimische Theologen ausbilden. Wer aber glaubt, mit dem Verbot des Kopftuchs gegen den Islamismus kämpfen zu können, ist entweder naiv oder böswillig.

Nicht die christliche Gesinnung, sondern die Werte der Aufklärung stehen heute auf dem Prüfstand. Nur wer sich daran erinnert, dass der Islam nicht nur ein Eindringling in Europa war, gegen den die Verteidigung des Abendlandes organisiert werden musste, sondern auch eine Inspirationsquelle für Kunst und Aufklärung, kann eine Gesprächsgrundlage mit Muslimen finden und sich für die Wertegemeinschaft der Moderne einsetzen.

Es ist positiv, dass immer mehr Muslime die Gefahr erkennen, die von pervertierten Interpretationen ihres Glaubens ausgeht. Schließlich sind die allermeisten unter ihnen keine Verschwörer, sondern Leidtragende dieser fehlgeleiteten Entwicklung. ZAFER ȘENOCAK

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen