BEIM ESSEN: Die verlorene Zeit
An einem Sonntagabend war ich mit einem überaus charmanten Franzosen im „Felix Austria“ am Marheinekeplatz. Wir saßen im hinteren Teil, einem schönen Raum mit rotem Plüsch, üppigem Stuck, alten Schauspielerfotos an den Wänden und der wunderbaren Möglichkeit, zu speisen und zu rauchen. Wobei nur ich gegessen und geraucht habe. Der Franzose hat sich darauf konzentriert, ein guter Unterhalter zu sein. Wir waren die einzigen Gäste und wurden nur durch das Erscheinen des Kellners unterbrochen, der dafür sorgte, dass der Weinstrom nicht versiegte.
Als wir ungefähr beim vierten Glas waren, schien der Wein eine berauschende Wirkung zu zeigen. Zumindest dachte ich das: Ein alter Mann, der aussah, als wäre er einer längst vergangenen Zeit entsprungen, betrat durch die halb geöffnete Tür mit vornehmer Zurückhaltung den Raum. Er hatte weiße Haare und trug eine schwarze Smokingjacke, aus der ein hoher weißer Kragen herausschaute. Über seine Schultern hatte er einen weißen Seidenschal geworfen. Mit der rechten Hand stützte er sich auf einen eleganten Gehstock.
Der Franzose fragte ihn auf Deutsch, mit dem typischen Akzent, ob er etwas suche. Kaum hörte der Mann den Akzent, strahlte er über das ganze Gesicht und antwortete auf Französisch: „Je cherche le temps perdu.“ So schnell, wie er aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden. Mit offenen Mündern schauten der Franzose und ich uns an. Es war gerade so, als sei diese Fünf-Sekunden-Erscheinung wieder zwischen die Deckel von Prousts „Recherche“ gesprungen.
Bei Proust steht die Vergangenheit als wiedergefundene Zeit wieder auf. Ob der Mann aus dem Lokal die verlorene Zeit wiederfinden wird, frage ich mich, seit ich ihn gesehen habe. Ich für meinen Teil werde mit dem Landsmann von Proust, mit dem ich im „Felix Austria“ war, keine Zeit verlieren. BARBARA BOLLWAHN
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