: Die große Schmelze
VON KATRIN EVERS
Hoch oben in den Ötztaler Alpen, auf über 3.000 Meter, liegt zwischen der Wildspitze und dem Fluchtkogel ein glatt geschliffener Felsriegel. Im Hintergrund schimmert eine Eisschicht, dünn wie ein Bettlaken, zerklüftet von Schmelzrinnen. „Vor 18 Jahren wälzten sich noch 20 Meter dicke Eismassen über diese Wand hinunter“, sagt Ludwig Braun. Er ist Glaziologe an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die seit vierzig Jahren den Vernagtferner untersucht, den wohl am besten erforschten Gletscher der Alpen. Seit 1850 ist die Fläche des Ferners um ein Drittel geschmolzen, an Masse hat der Eisstrom sogar zwei Drittel verloren.
„Es ist wie mit einem Spar- und einem Girokonto“, sagt Braun. „Der über Jahrzehnte gewachsene Eiskörper ist das Sparkonto. Der Schnee, der jährlich im Winter darauf fällt und in der sommerlichen Sonne wegschmilzt, das sind die Bewegungen auf dem Girokonto. Solange mehr Schnee hinzukommt, als Eis schmilzt, wächst das Sparkonto – überwiegt die Schmelze, schrumpft es.“ Und das geschieht am Vernagtferner nun schon seit 24 Jahren: Die Eismassen schwinden. Negative Massenbilanz nennen die Glaziologen das. Geht es so weiter, ist das Sparkonto bald aufgebraucht; der Vernagtferner wäre in gut fünfzig Jahren verschwunden.
Doch ist dies nicht allein das Schicksal des Vernagtferners und der gut 5.000 Gletscher der europäischen Alpen. Ob in Grönland, in Südamerika oder auf dem ostafrikanischen Kilimandscharo: Weltweit taut das Gletschereis immer schneller. Dies dokumentieren zahlreiche wissenschaftliche Studien, etwa die jüngst erschienenen vom UN-Klimagremium IPCC oder vom Umweltverband WWF. Dieser hat seine Recherchen pünktlich zum derzeitigen Klimagipfel in Mailand veröffentlicht. Sein Aufruf an die dort verhandelnden Umweltminister: Klimaschutz endlich konkret umsetzen. Nur so könne die große Schmelze noch aufgehalten werden.
Was genau passiert im längst nicht mehr ewigen Eis? „Das rasante Schmelzen ist nicht mehr mit natürlichen Schwankungen allein zu erklären“, sagt Glaziologe Braun. „Die Gletscher sind das Fieberthermometer der Atmosphäre – ein gutes Objekt, um den Klimawandel nachzuweisen.“ Die höheren Temperaturen, bedingt durch den verstärkten Treibhauseffekt, spielen dabei nur eine indirekte Rolle. Vielmehr sind es geringere Schneefälle und viele aufeinander folgende sonnige Tage im Sommer, die die Gletscher schmelzen lassen. Beides Phänomene, die aufgrund des Klimawandels häufiger auftreten.
Entscheidend ist die direkte, kurzwellige Sonnenstrahlung. Frischer weißer Schnee reflektiert davon 90 Prozent; lediglich ein Zehntel wird absorbiert und trägt zur Schmelze bei. Gab es im Winter wenig gefrorenen Niederschlag und ist es bereits im Frühsommer viele Tage hintereinander warm, tritt schnell älterer Schnee zutage. Dieser Firn ist vom Gesteinsstaub verdunkelt und absorbiert schon bis zu 50 Prozent der auftreffenden Strahlung. Darunter liegt dann das dunkle Gletschereis, das Sparkonto. Dieses nimmt 80 Prozent der Strahlen auf und schmilzt damit wesentlich schneller als frischer Schnee. Ist die Schmelze also einmal in Gang, läuft eine Kettenreaktion ab. Dadurch fließt zunächst viel Wasser zu Tal, langfristig jedoch wird es immer weniger.
Was Braun und sein Team im Ötztal erforschen, gilt für die Gletscher weltweit. Doch gibt es auch Ausnahmen. In Neuseeland und Skandinavien etwa wachsen die Eismassen. Auch dies ist eine Folge des Klimawandels. Höhere Temperaturen lassen mehr Wasser verdunsten; so entstehen verstärkt Niederschläge, die – noch – als Schnee niedergehen.
Die Konsequenzen der Schmelze bekommen vor allem die Menschen zu spüren, die den Treibhauseffekt wohl kaum verursacht haben. Größtes Problem ist das Trinkwasser: Gletscher speichern etwa 70 Prozent der globalen Trinkwasserreserven. Ein Drittel der Weltbevölkerung ist abhängig vom Wasser der Flüsse, die sich aus dem Himalajagebirge speisen. Die tauenden Gletscherzungen bilden vom Eis gestaute Seen. Wenn auch die Dämme schmelzen, können die Wassermassen ganze Dörfer wegspülen. In Ecuador, Peru und Bolivien sichern die Andengletscher ganzjährig die Wasserversorgung; im Sommer sind sie für Großstädte oft die einzige Trinkwasserquelle. Wenn das Wasser knapp wird, „drohen auf dem Kontinent alte Konflikte über Wasserrechte wieder aufzubrechen“, befürchtet Lynn Rosentreter, Autorin der WWF-Studie. „Beispielsweise entspringen alle chilenischen Flüsse in Bolivien.“
Doch auch die Industrienationen bleiben nicht verschont. In den Alpen werden vor allem die ökonomischen Auswirkungen gravierend sein. Einige Gletscher sind wichtige Skigebiete, im Sommer wie im Winter. Vom Spätherbst bis in den frühen Sommer sind ihre Reste in Zukunft doppelt wichtig: Eine jetzt veröffentlichte UN-Studie prophezeit tiefer gelegenen Wintersportorten in Deutschland und Österreich das Aus. Ein klimabedingter Schneemangel sei weiterhin zu erwarten, die Schneefallgrenze in Österreich werde in den nächsten 30 bis 50 Jahren um 200 bis 300 Meter steigen. Ein Ausweichen auf Gletscher sei indes nur bedingt möglich, da diese deutlich zurückgingen.
Auch in Europa tragen die Gletscher entscheidend zur Wasserversorgung bei. „In trockenen, warmen Sommern kompensieren die Gletscher mit ihrer verstärkten Schmelze den geringen Wasserstand der Flüsse“, erzählt Braun. In solchen Zeiten stammen bis zu 90 Prozent des Rheinwassers, das in Holland ankommt, aus den Alpen. Doch wenn das Sparkonto oben in den Bergen leer ist, wird dann kaum noch Wasser den Rhein hinunterfließen. Die Schifffahrt wird sich einschränken müssen, Wasserkraftwerke werden weniger Strom produzieren können, Atomkraftwerken wird das Kühlwasser fehlen. Der vergangene Sommer hat schon einen Vorgeschmack geliefert.
„Damit der Vernagtferner wieder seine maximale Ausdehnung vom Jahr 1850 erreicht, müsste es 200 Sommer mit kühler, feuchter Witterung geben“, erklärt Braun. „Das war für die 1960er und 70er Jahre typisch.“ Die könnte es geben, auch bedingt durch den Treibhauseffekt. Denn das schmelzende Eis von Arktis und Antaktis könnte den Golfstrom, die Heizung Europas, verlangsamen und Europa eine Kaltzeit bescheren. Zu spät allerdings, um die Alpengletscher zu retten. „Denn“, so Braun, „damit ist, wenn überhaupt, erst in einigen Jahrhunderten zu rechnen.“ Dann aber wären die meisten Gletscher Europas nicht mehr da.
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