: „Die Verfassung ist nicht gescheitert“
Der Vizepräsident des EU-Konvents, Jean-Luc Dehaene, deutet das Scheitern des Brüsseler Gipfels nicht als Krise
taz: Wie geht es nach dem Scheitern des Brüsseler Gipfels weiter?
Jean-Luc Dehaene: Ich gehe nicht davon aus, dass die Verfassung gescheitert ist. Eine Krise wie beim Rat von Brüssel kann auch eine Katharsis bedeuten. Man muss der irischen Ratspräsidentschaft, die am 1. Januar die Geschäfte übernimmt, die Chance geben, eine Einigung zu finden. Ich hoffe, dass Irland die Positionen aktiv und diskret aufeinander zuführt.
Sie werden es nicht leicht haben. Im März wird in Spanien gewählt, im Juli das Europäische Parlament.
Das sind sicher nicht ideale Voraussetzungen für eine Einigung. Man darf die Iren jetzt nicht unter Druck setzten. Der große Unterschied zu Nizza ist, dass wir nicht gezwungen sind, einen neuen Vertrag zu verabschieden.
Ihr Kollege im Konvent, der deutsche Europaabgeordnete Klaus Hänsch, sieht Europa in eine schwere Krise rutschen, wenn nicht schnell eine Einigung über den Konventsentwurf kommt.
Die Erweiterung auf der Grundlage von Nizza wird schwierig. Ich will nicht von einer großen Krise sprechen. Die Regierungskonferenz ist nur vertagt. Wenn wir wissen, wie die neue Verfassung aussieht, wenn nach dem Beitritt der zehn Neuen im Juli das Europäische Parlament gewählt wird, wäre das optimal. Wenn der irische Ratsvorsitz gute Fortschritte macht und wir uns am Jahresende unter niederländischen Vorsitz einigen, warum sollte das ein Problem sein?
Weil die europäischen Bürger das Vertrauen in die EU verlieren. Wie erklären Sie ihnen das Scheitern des Gipfels?
Man muss die Bedeutung der Verfassung erklären. Der Gipfel von Brüssel war nur ein Zwischenschritt. Man muss sehen, dass die Regierungskonferenz Punkte angenommen hat, die zu Beginn des Konvents vor 18 Monaten beinahe undenkbar waren, der gemeinsame Außenminister zum Beispiel.
Hätte man mehr Rücksicht auf die Souveränitätsbedürfnisse der neuen osteuropäischen Mitglieder nehmen müssen?
Die Union ist eine supranationale Organisation, an die man Hoheitsrechte abtritt. Diese Länder werden Zeit brauchen, den Sinn zu verstehen. Ich gebe immer das Beispiel der Währungsunion. Wir hatten vor der Währungsunion den belgischen Franken an die D-Mark gekoppelt. Unsere Souveränität beschränkte sich auf die Sekunden zwischen der Entscheidung in Frankfurt und der in Brüssel. Seit wir in der Währungsunion sind, fällt die Entscheidung immer noch in Frankfurt. Aber durch eine europäische Bank im europäischen Interesse, und nicht mehr im deutschen, wie es die Bundesbank tat.
INTERVIEW: KARL DOELEKE
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