: Der süße Duft der Pubertät
Seine Zweit- und Drittwaffen trägt man hier noch am Fußgelenk: Das H2O ist nach seinem Umzug zu einem echten HipHop-Club geworden
Auf der Kastanienallee war das H2O eine Ausnahmeerscheinung. Während sich 1998 der neue und alte Szeneadel bemühte, die wachsende Zahl von Studenten und Touristen zu übersehen, die mit enthusiastischem Gesichtsaudruck ihre Milchkaffees bestellten, Geschenkeläden mit niedlichen Accessoires eröffneten und auf dem Bürgersteig die Kinderwagen überhand nahmen, eröffnete an der Ecke Oderbergerstraße ausgerechnet eine Hiphop-Bar. Eine schwere Stahltür und ein bulliger Türsteher versprühten den Charme eines New Yorker Nachtclubs, gegen die Scheiben zeichnete sich stilvoll die Silhouette des DJs ab, und manchmal fuhren sogar ein paar glamouröse Türken in einem 3er-BMW vor.
Der Skandal bestand darin, dass fast jeder in diesem Laden unter zwanzig war. An der Grenze zwischen Mitte und Prenzlauer Berg, deren gar nicht mehr so junge Bewohner sich trotz eigener Kinder, gut bezahlten Jobs und Eigentumswohnungen im Zustand der ewigen Jugend wähnten, pumpte die Klimaanlage des H2O an den Wochenenden neben schweren Beats auch den süßlichen Duft pubertärer Wirklichkeit auf die Straße.
Die schweigsamen und irgendwie immer etwas gelangweilten Gruppen von männlichen Teenagern, die steif auf dem Rand der Sofas und Bänke saßen, um ihre frisch gebügelten Baggypants nicht aus der Form zu bringen, stellten so allerdings ein durchaus erfreuliches Korrektiv zur gemütlichen Geschwätzigkeit in den Kneipen der näheren Umgebung dar. Praktischerweise waren Anwesenden mit ihrem entschlossenen Nichtstun, gelegentlichem Kopfnicken und vorsichtigen Blicken zu den Mädchen derart beschäftigt, dass sie sich nicht weiter an denjenigen Besuchern störten, die den Alterdurchschnitt deutlich überschritten und einfach nur die Sorte von Musik hören wollten, die in den meisten Kneipen nerven würde, im H2O allerdings souverän und stilsicher gehandhabt wurde: HipHop eben.
In diesem Herbst schloss das H2O dann plötzlich. Ein Zettel im Fenster verwies auf eine nicht näher datierte Neueröffnung „Nähe Alexanderplatz“, und irgendwann wurden Zeit und genauer Ort verraten. Aus der überschaubaren Bar ist mit dem Umzug in die S-Bahn-Bögen an der Ecke Dircksen- und Karl-Liebknecht-Straße nun ein echter Club geworden, mit zwei großen Hallen für gut 600 Leute. Am Wochenende wird es tatsächlich voll, doch wenn wie jetzt gerade an einem Donnerstagabend DJ Mad von den Beginnern Platten auflegt, wirken die neuen Räumen in gepflegt verratzter Backsteinoptik noch eine Spur überdimensioniert.
Nichtsdestotrotz hat man das Gefühl, dass der Umzug aus dem Prenzlauer Berg, der gerade von dieser schäbigen Straßenecke im Schatten des Funkturms her betrachtet ausgesprochen albern wirkt, dem H2O gut zu Gesicht steht. Hier gibt es kein Türschild, nur eine Neonröhre und einen Doorman, der den langsam einlaufenden Abiturienten den Gefallen tut, sie sogar an den Fußgelenken nach verborgenen Zweit- oder Drittwaffen abzutasten.
Im Innern kann man auf den großzügig verteilten Ledersofas in Ruhe an seinen Handy herumfingern und weiche Drogen konsumieren, und das zunächst wie gehabt schweigsame Miteinander geht im Laufe des Abends ganz gemächlich in die geschäftigen Ritualen des Nachtlebens über: die richtigen Getränke bestellen, den Sitz des Schlüsselbandes kontrollieren, Neuankömmlinge mit dezentem Anrempeln an der Schulter begrüßen und Mädchen so gut es eben geht ignorieren.
Später, jetzt laufen die Hits, tapsen sie dann mit ihren flauschigen Kapuzenjacken wie betrunkene Bären über die Tanzfläche, und die durch stundenlanges Videostudium eingeübten Handbewegungen geraten leicht außer Kontrolle. So wächst das Gefühl einer nur für wenige Stunden garantierten, aber dafür umso intensiveren Zusammengehörigkeit, die Jugendkulturen im Innersten zusammenhält – und Außenstehende zunächst zu Beobachtern degradiert und dann zu Voyeuren macht. Es ist Zeit zu gehen. Der Weg nach Hause führt durch Kastanienallee.
KOLJA MENSING
H2O, Karl-Liebknecht-Str./Dircksenstr. Am 25. und 26. Dezember „Highnachten“ mit den Spezializtz’ und den Beginnern
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