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Alles Jammerlappen

Matthias Hartmann hat am Bochumer Schauspielhaus Anton Tschechows „Iwanow“ ins Hierund Jetzt überführt: mit einem munteren Ensemble und zuweilen hinderlichen Regie-Einfällen

VON BORIS R. ROSENKRANZ

Jammerlappen, der eine wie die andere! Und der größte Jammerlappen, er heißt Iwanow, liegt zusammengefaltet auf dem Boden, kauert, klagt, hat schlechte Laune. Kurz zuvor hatte er sich erschossen. Klagt nun aber trotzdem weiter, da selbst der Tod ihm keine Erleichterung zu verschaffen scheint. Zu groß ist seine vermeintliche Schuld, sein schreckliches Leid, das großenteils ein einziger zu verantworten hat – Iwanow selbst.

Matthias Hartmann, Intendant des Bochumer Schauspielhauses, hat Anton Tschechows „Iwanow“ von hinten aufgerollt. Gleich zu Beginn seiner Inszenierung wird der Schluss des Vierakters, der Freitod des gekränkten Helden, vorweg genommen, erst anschließend der Weg zu diesem Ausweg erzählt. Ein Weg, der gepflastert ist mit nervigen Gestalten, die sich langweilen, die in sich selbst verharren, und wenn sie mal ihre Umwelt betrachten, dann nur, um sich hernach die Mäuler zu zerreißen. Iwanow geht das gehörig an. Er ist gequält, steckt knietief im Dispo, weil er einst mit Geld um sich warf und am Ende alles verlor – vor allem sich selbst.

Michael Maertens steht die Rolle des verklärten Intellektuellen, des ewig Missverstandenen äußerst gut. Maertens ist zerknittert, zerknirscht, schwankt zwischen der Wut auf andere und dem Mitleid mit sich selbst. Seinen Gegenpol stellt die lebensgierige Sascha dar, die sich zwischen Iwanow und seine todkranke Frau Sarah (Johanna Gastdorf) stellt. Sascha ist die einzige, die aus der Gesellschaft der Gelangweilten ausbricht, die einzige, die der alltäglichen Lethargie stoisch trotzt – energisch gespielt von Lea Draeger. Sie trägt eine jugendliche Energie in sich, die auch Iwanow mal verspürt haben will. Doch jetzt ist er nur noch müde, cholerisch, ein Kotzbrocken – und damit manchem Zeitgenossen, der heute über die Erde irrt, nur allzu ähnlich.

Auf diesen Gegenwartsbezug legt Hartmann wert, bleibt deshalb nicht krampfhaft dicht am Text, lässt seinem munter aufspielenden, schwarz gewandeten Ensemble ausreichend Platz, die Charaktere zu konturieren. So fungieren Tschechows Figuren bisweilen auch als Erzähler, brechen also aus ihrer Rolle aus. Gegenwartsbezug bedeutet bei Hartmann aber immer auch den unweigerlichen Einsatz von Videotechnik. Das ist oft raffiniert und ein Verdienst der Videodesigner Peer Engelbrecht und Stephan Komitsch. Genauso oft ist es aber auch überflüssig, wenn Kameramänner durch die Szene wackeln und mehr Ablenkung produzieren als künstlerischen Mehrwert.

Mit den humoristischen Einsprengseln verhält es sich ähnlich: Karsten Riedel, dessen Rolle diesmal nicht nur auf die des formidablen Musikers beschränkt ist, kündigt immer wieder Gassenhauer an, „Lieder gegen die Langeweile“, spielt aber gemeinsam mit Sänger Sergej Rybnikow ausschließlich Schlaflieder. Ein Regie-Einfall, der beim ersten und zweiten Mal ankommt, beim dritten und vierten Mal allerdings kläglich verpufft. Denn solche Running-Gags hat die Inszenierung, die mit etlichen Namen besetzt ist, eigentlich gar nicht nötig. Angelika Richter brilliert in ihrer Rolle als dezent depperte Babakina, Fritz Schediwy als liebenswert-planloser Schabjelski und Tana Schanzara, nun ja, sie könnte in Bochum alles spielen, die Menschen vergöttern sie sowieso.

Tschechow jedenfalls beabsichtigte damals, Ende des 19. Jahrhunderts, in seinem „Iwanow“ all das zu summieren, „was bisher über die jammernden und melancholischen Menschen geschrieben worden ist“. Es ist ihm gelungen, wie es Hartmann weitestgehend gelungen ist, die skizzierte Jammerlappigkeit auf das Hier und Jetzt anzuwenden.

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