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wir lassen spielenRuggeri rettet den Spielmacher

Im Zeitalter des digitalisierten Xbox-Fußballs bietet Walter „Argentinien“ Müller mit seinem Spiel „Brettfußball“ eine traditionsbetonte Alternative

Noch wenige Minuten bis zum Anpfiff. Die Spieler in Blau-Weiß – den Farben des argentinischen Nationalteams – haben ihre Positionen eingenommen. Osvaldo Ardiles ist Abwehrchef, José Burruchaga soll im Mittelfeld die Fäden ziehen. Im Angriff lässt Walter Müller Hugo Ayala stürmen. Diego Maradona sitzt auf der Bank. „Der ist außer Form“, rechtfertigt Müller die Maßnahme. Nein, keine neuen Herz-Kreislauf-Probleme oder Drogeneskapaden – das auffallend grazile Figürchen hat sich zuletzt nur zu viele Ballverluste geleistet.

Dabei bräuchte Walter Müller heute einen genialen Regisseur gegen den Angstgegner. Der heißt Neuseeland. Eine Insel, auf der es mehr Schafe als Fußballer gibt. Aber warum soll es Walter Müller anders gehen als Rudi Völler, der beinahe an den Färöer-Inseln in der EM-Qualifikation gescheitert wäre und sich dann mit seinem Team in Portugal gegen Lettland blamierte? „Die Kleinen“ gibt es auch im Brettfußball nicht mehr. Vor 30 Jahren sah das noch anders aus.

Es war einer jener öden spielfreien Tage, die es selbst bei Welt- oder Europameisterschaften gibt, als Walter Müller während der WM 1974 in Deutschland „Brettfußball“ erfand. „Mir war es furchtbar langweilig“, erinnert sich der Allgäuer. Keine WM-Partie, und bei Fritz-Walter-Wetter wollte auch keiner seiner Freunde mit dem damals 15-Jährigen draußen kicken. „Aber ich musste Fußball spielen“, erzählt der Kemptener. Einer Eingebung folgend, griff er zum Stift und zog auf dem Karton seines Zeichenblocks Linien – längs und quer. Das Resultat waren 472 Kästchen. Um sich die passenden Regeln auszudenken, brauchte der Realschüler eine Viertelstunde. „Sie sind einfach. Das macht Brettfußball unter anderem so faszinierend“, findet der 45-Jährige. Die beiden Kontrahenten würfeln abwechselnd, bewegen den Ball oder eine der elf Figuren und versuchen das Runde im Eckigen zu versenken. Das taktische Zauberwort heißt im Brettfußball nicht Viererkette, sondern „Figurenreihe“. Weil der Ball nur quer oder längs, nicht aber diagonal gespielt werden darf, müssen die Spieler hintereinander auf einer Linie in Position gebracht werden. Nur so lässt sich das Mittelfeld schnell überbrücken. „Brettfußball ist Denksport“, erklärt der Spielmacher. „Es braucht Strategie, Taktik und etwas Würfelglück.“ In seinen Augen ist es das ideale Geschenk für jeden echten Fußballfan, der sich in den spielfreien Zeiten sonst zu Tode langweilt.

Walter Müller deklassierte an jenem verregneten Sonntag vor 30 Jahren seinen kleinen Bruder. Eigentlich war es Argentinien, das das erste Spiel in der Brettfußball-Geschichte gewonnen hat. Jenes Team, das der junge Fußballfan verehrte, obwohl es bei der WM enttäuschte. Im Brettfußball war Argentinien damals schon eine Macht. Nach dem Bruder bekamen das die Freunde zu spüren. Die blau-weiß angemalten Figuren, die Walter Müller heute noch über den Platz bewegt, spielten mit den Gegnern Katz und Maus.

Für seine Kumpel hatte er Regelheftchen geschrieben, das Spielfeld mussten sie sich selber basteln. Zehn Jahre später kam die erste Auflage von Brettfußball auf den Markt – immerhin 500 Stück. Müller, zu jener Zeit Hausmeister in einem Pfarrheim, beklebte Pappschachteln mit grünem und rotem Papier, um sein Spiel ordentlich verpackt an den Mann zu bringen. „Der Aufwand war groß. Aber für Brettfußball habe ich alles getan“, so der gelernte Maschinenschlosser. „Das Spiel hat mein Leben verändert.“

Auf der Suche nach Abnehmern landete Müller in einem Spielzeugladen, mit dessen Besitzerin er sich sofort verstand. Zuerst half er aus, dann stieg er ins Geschäft ein. Später übernahm er es. Als im vergangenen Jahr am anderen Ende der Fußgängerzone ein großes Einkaufszentrum eröffnete und die Laufkundschaft fehlte, machte Müller den Laden dicht. Seitdem versucht er seinen Spieleverlag „in Schwung zu bringen“. Mit „Entenrallye“ und „Favoriten“ hat es Müller schon auf die Liste „Spiel des Jahres“ geschafft und jeweils 12.000 Stück verkauft. Dagegen nehmen sich die knapp 2.000 Brettfußball-Exemplare bescheiden aus. Um den Absatz seines Lieblingsspiels zu steigern, tritt Müller inzwischen offensiver auf dem Markt auf. Ende 2003 ist die vierte Auflage mit peppigem Outfit und Taktikbuch erschienen, eine Website (www.brettfussball.de) stellt das Spiel vor.

Aber was interessieren ihn an diesem Abend Marketingstrategien. Walter Müller hat heute andere Sorgen. Neuseeland führt 1:0. In der 60. Minute gleicht Ruggeri aus. „Der hat auch im letzten Spiel getroffen“, freut sich der Teamchef und macht auf einem Zettel hinter Ruggeris Namen ein Plus. Am Ende muss sich Argentinien mit einem 2:2 begnügen – ein Remis in der Zwischenrunde des regelmäßig in Kempten ausgetragenen Allgäu-Cups gegen einen gewissen Guy Sparrow, der erst seit drei Jahren Brettfußball spielt und mit Rugby groß geworden ist. „Jetzt müssen im letzten Gruppenspiel drei Punkte her“, fordert der zehnfache Cupsieger, während er die Tribünen und Zuschauer vom Wirtshaustisch räumt und in die Holzkisten packt. Auch die Spieler werden sorgfältig verstaut. Selbst den so unglücklich agierenden Ayala bettet Walter Müller in Samt.

ROLAND WIEDEMANN

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