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Die Achse des Reggae – von Tobias RappNeue Spuren über alten Songs

Verwunderlich, wie viele großartige Sängerinnen und Sänger Jamaika hervorgebracht hat – eine Insel, die immerhin kleiner ist als Brandenburg und ungefähr genauso viele Einwohner zählt. Mit dem Frühwerk des Sängers Sugar Minott haben die Macher des Londoner Labels Soul Jazz aus dem endlosen musikalischen Fundus Jamaikas nun weitere anderthalb Dutzend großartiger Stücke gezogen.

Dieser Aufgabe widmen sie sich schon eine ganze Weile. Gemeinsam mit Coxsone Dodd, dem im vergangenen Jahr verstorbenen Boss des legendären Reggaelabels Studio One, haben sie in den vergangenen Jahren Album auf Album mit dem Studio-One-Backkatalog veröffentlicht. Nicht ohne Dodd den Raum zur Darstellung seiner Version der Geschichte einzuräumen – was durchaus fragwürdig ist, war dieser doch genauso ein musikliebender Ausbeuter wie etwa der Motownchef Berry Gordy: mit dem kleinen Unterschied, es trotz allen Künstler-über-den-Tisch-Ziehens eben nicht zum Multimillionär gebracht zu haben. Genau wie jener allerdings mit immer neuen musikalischen Visionen. Als ihm Sugar Minott Mitte der Siebziger seine Songs über die Rhythmusspuren alter Stücke vorsang, wandelte Dodd dieser Idee in das nächste große Ding: Dancehall. Den Beginn und einige Höhepunkte dieser Musik kann man auf dem wunderbaren Album „Sugar Minott at Studio One“ studieren. Aus Alton Ellis’ „I’m Just A Guy“ wird „Vanity“, aus „Pretty Looks Isn’t All“ von den Heptones wird „Never Give Up“.

Sugar Minott: „At Studio One“ (Soul Jazz/Indigo)

Disco-Shots für Jamaika

Die schier endlose Serie, mit der das Soul-Jazz-Label den Backkatalog von Studio One präsentiert, hat einen kuriosen Nebeneffekt: Zwar drehten sich die meisten Folgen um Stile wie Dub, Ska, Roots oder Rockers, wohl eingeführt, allgemein bekannt und geschätzt. Doch seit dem Erfolg der Platte, die Coverversionen von Soulstücken vorstellte, widmen sich diese Zusammenstellungen interessanterweise auch Genres, die es als solches niemals gab, sondern die sich erst a posteriori herauskristallisieren, die sich erst aus der Sortierarbeit der nachgeborenen europäischen Nerds ergeben.

So auch im Fall der von „Studio One Disco Mix“, der jüngsten Folge. Wie schon andere Jazz, Soul und Funk vorher, fand auch Disco seinen selbstverständlichen Weg aus Nordamerika nach Jamaika. Viele Discotracks wurden gecovert (auch dafür gibt es mit „Hustle!“ die passende Soul-Jazz-Compilation) – vor allem aber nahmen die Reggaeproduzenten einige Stilmittel von Disco auf. Am liebsten die so genannten Discoshots, das berühmte „Buu, buu, buu“, das unvermeidlich fast jedes Discostück der Siebziger schmückt. Gleichzeitig bot dieser neue Sound Anlass, das zu tun, was man als Reggaeproduzent seit jeher am liebsten macht: die alten Stücke im neuen Gewand noch einmal aufzunehmen. Da gibt es etwa den Klassiker „Armigideon Time“ von Willie Williams in einer wunderbar verhüpften Version der späten Siebziger zu hören. Aber auch Stücke von Sugar Minott, Jackie Mittoo oder den Ethiopians.

V. A.: „Studio One Disco Mix“ (Soul Jazz/Indigo)

Bedingungslose Liebe

Einer ganz anderen Art der Traditionspflege haben sich die Berliner Moritz von Oswald und Mark Ernestus verschrieben. Seit Jahr und Tag betreiben sie neben den Techno-Baureihen ihres Basic-Channel-Imperiums das Label Burial Mix, auf dem sie mehr als ein Dutzend wunderbarer Reggaestücke herausgebracht haben. In ihrer Liebe zum Reggae sind sie noch bedingungsloser als die Soul-Jazz-Macher. Jedes Stück erschien zunächst als 10inch-Maxi, bevor zwei Compilations sie zusammenfassten. Für dem fantastischen „See Mi Yah“ treiben sie es noch weiter: Jedes der Stücke ist auch als Single erhältlich, das in Jamaika noch immer übliche Medium dieser Musik. Im Unterschied zu den Soul-Jazz-Machern weigern sich von Oswald und Ernstus allerdings, Reggae als ein geschlossenes System zu betrachten, das nur noch der Kanonisierung bedarf. Zwar kümmern sie sich mit ihren Wiederveröffentlichungen der Platten des New Yorker Wackies-Label auch um die Pflege der Vergangenheit, ansonsten ist Reggae für sie aber eine Musik, die lebt und gedeiht – in den Stimmen seiner Sängerinnen und Sänger. Das Prinzip von „See Mi Yah“ ist einfach: Elf Sänger singen über den gleichen Rhythmustrack. Legenden wie Sugar Minott oder Willie Williams, Paul St. Hilaire, der schon auf einigen Burial-Mix-Stücken sang, aber auch unbekanntere Künstler wie Walda Gabriel oder Freddy Mellow. Jede Version fügt dem Stück eine Nuance hinzu, auch nach dem 10. Durchlauf wird man seiner nicht müde.

Rhythm & Sound: „See Mi Yah“ (Burial Mix/Indigo)

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