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Der Fernseh-Mufti

Durch al-Dschasira wurde der islamische Geistliche Yusuf al-Qaradawi in der arabischen Welt zum Medienstar. Seine Kommentare zu Selbstmordattentaten, Homosexualität und jüngst zur Flutkatastrophe haben ihn jedoch in die Kritik gebracht

Der Tsunami sei eine Strafe Gottes für den Sextourismus in Südostasien

VON BETTINA GRÄF

Als Yusuf al-Qaradawi den Saal betritt, stehen die über 1.200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung auf und skandieren lauthals „Allahu akbar“, „Gott ist groß“. Der Gelehrte erscheint in einem schwarzen Umhang und weißen Turban, begleitet von sechs Bodyguards. Er wird wie ein Popstar begrüßt, verzieht angesichts des aufbrandenden Jubels jedoch keine Miene. Er setzt sich und beginnt, langsam und mit tiefer, gleichförmiger Stimme zu sprechen: über den Segen, den der Islam für die Menschheit verspricht. Die Rede des Geistlichen ist gespickt mit Koranversen und Zitaten des Propheten Mohammed, aus denen er Anregungen für die Umsetzung der islamischen Lehre im Alltag des 21. Jahrhundert zieht. Sie ist ausschweifend und dauert lange, zumal die Übersetzung vom Arabischen ins Englische zusätzliche Zeit kostet. Doch das Auditorium ist begeistert: Immer wieder stehen Einzelne auf und jubeln ihm zu.

Die Szene spielte auf der Jahreskonferenz der muslimischen Vereinigung in Großbritannien im Sommer 2004, zu der hochkarätige islamische Gelehrte und Prediger in die Londoner Kensington Hall eingeladen wurden. Zu ihnen gehörte nicht nur Yusuf al-Qaradawi: Der ägyptische Scheich lebt in Qatar und ist dank seiner Fernsehpräsenz beim arabischen Sender al-Dschasira heute in der gesamten arabischsprachigen Welt bekannt. Auf der Rednerliste standen auch andere prominente Denker wie der ägyptische Starprediger Amr Chalid, der im Stil eines US-Fernsehpredigers auftritt und sein vorwiegend junges Publikum in der Mittel- und Oberschicht seines Landes findet. Oder der Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan, der für einen europäischen Islam plädiert und allgemein als Idol der französischen Vorstädte gilt.

Entsprechend heterogen ist das Publikum in Londons Kongresszentrum. Im Saal sind die Muslime zwar unter sich, trotzdem wirkt das Publikum keineswegs uniform: Da gibt es Frauen in Hosen oder langen Gewändern und mit Kopftüchern in allen Farben und Formen, aber auch Frauen ganz ohne Kopfbedeckung. Es gibt Männer mit und ohne islamische Barttracht, mit Turbanen oder kleinen Mützen. Kinderwagen versperren die Gänge. Nur die Sitzordnung ist einheitlich: Die Frauen sitzen in einer Reihe links, die Männer rechts, in der Mitte Familien mit Kind und Kegel.

Millionen von Muslimen ist Yusuf al-Qaradawi durch seine wöchentliche Sendung „Das islamische Recht und der Alltag“ bekannt, die im Programm von al-Dschasira aus Qatar ausgestrahlt wird. Seine Bücher werden in hohen Auflagen verkauft, und auf seiner Webseite (www.qaradawi.net) bietet er praktische Tipps für Gläubige in allen Lebenslagen. Der Fernsehmufti nutzt die verschiedenen Medien, um so viele Muslime wie möglich zu erreichen. Damit hofft er, seinem Ideal von einer global vernetzten islamischen Gemeinschaft näher zu kommen.

Islamwissenschaftler bezeichnen Yusuf al-Qaradawi gerne als einen „gemäßigten Islamisten“: Der Rechtsgelehrte setzt sich seit seiner Jugend für den Islam und die Rechte von Muslimen ein, wendet sich aber auch gegen Extremismus und Gewalt. Al-Qaradawi selbst reklamiert für sich den Begriff „Schule der Mitte“. Das bedeutet, dass er die unterschiedlichen islamischen Rechtstraditionen gleichermaßen anerkennt und konsultiert. Dazu passt, dass al-Qaradawi in London die Internationale Vereinigung islamischer Rechtsgelehrter (IAMS) mitbegründet hat. Sie soll sich mit Fragen der globalen Anwendbarkeit der islamischen Quellen befassen und steht Muslimen jeglicher Ausrichtung offen: Sunniten, Schiiten und anderen zugleich.

1926 in Ägypten geboren, war al-Qaradawi zunächst Mitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft, bis diese in den Fünfzigerjahren vom damaligen Präsidenten Nasser verboten wurde. Nach einem Gefängnisaufenthalt verließ er Ägypten 1961 und emigrierte an den Persischen Golf. Fortan engagierte sich al-Qaradawi unabhängig von Parteien und Organisationen für die islamische Sache und äußerte sich in über 100 Büchern und einer Vielzahl von Artikeln, Predigten und Vorlesungen zu Fragen der Zeit. Bis heute ist er vom politischen und religiösen Establishment weitgehend unabhängig geblieben. So begründete er seinen Ruf als einer der wesentlichen Theoretiker der islamischen Erweckungsbewegung, die seit den Siebzigerjahren weltweit für eine Wiederbelebung des Islams eintritt.

Yusuf al-Qaradawi vertritt hauptsächlich wertkonservative Positionen. In diese mischt sich eine gute Portion Polemik gegen wirtschaftlichen Neoliberalismus, gegen kulturelle Verwestlichung oder eine aggressive amerikanische Außenpolitik, die an linke Kapitalismuskritik erinnert. Mit multimedialen Mitteln füllt al-Qaradawi zudem jene Lücke, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts auf dem Feld der islamischen Autorität aufgetan hat. Im Zuge von Kolonialisierung, nationalem Unabhängigkeitskampf und anschließender Verstaatlichung haben herkömmliche Instanzen islamischer Gelehrsamkeit wie die Al-Azhar-Universität in Kairo an Bedeutung eingebüßt. Heutzutage können sich Muslime „ihren Islam“ aus den Angeboten zusammenstellen, die sie über Satellitenfernsehen und Internet geliefert bekommen. Mit seinem Charisma sowie dem Habitus eines traditionellen Gelehrten, mit dem er in seiner wöchentlichen Sendung auf al-Dschasira, im Internet und in der lokalen Presse auftritt, bedient al-Qaradawi geradezu perfekt eine Sehnsucht nach Vertrautem mit dem Willen zur Reform und zum Widerstand gegen die Doppelmoral des Westens, der Demokratie predigt, aber jeden Despoten in der Region unterstützt, solange er den eigenen Zwecken dient. Dadurch ist er eine Integrationsfigur für viele Muslime weltweit geworden – auch für solche, die nicht fünfmal am Tag das Gebet verrichten. Seine schärfsten Kritiker hat al-Qaradawi dagegen aufseiten radikaler Islamisten, die ihn als „einen schwachen Mufti mit falschen Einschätzungen über Gott“ beschreiben, der zudem „die Zionisten stärken“ würde. Andere, wie etwa die englische Muslim-Webseite sal@m (www.salaam.co.uk), loben ihn dagegen als „streetwise“, weil er sich so nahe am Alltagsleben der Muslime bewege.

Trotz seines hohen Alters engagiert sich der 78-jährige al-Qaradawi für Zukunftsfragen. So arbeitet er daran, dass das islamische Recht auch in Europa als Minderheitenrecht Anwendung findet. Zu diesem Zweck agitiert er als Vorsitzender des 1997 gegründeten Europäischen Rats für islamische Rechtsgutachten und Studien. Über die bisher nur arabischsprachige Webseite des Rats (www.ecfr.org) können sich Muslime über die richtige islamische Lebensführung in der europäischen Diaspora informieren. Dort erfahren sie zum Beispiel, dass der Verzehr von Gelatine erlaubt ist, obwohl darin doch Schweinefleisch enthalten ist. Oder sie erhalten die Empfehlung, dass muslimische Mädchen in Frankreich sich für ihre Schulbildung entscheiden und dafür das Kopftuch in der Schule ablegen sollten. Trotzdem wird das Kopftuchverbot der französischen Regierung natürlich scharf kritisiert.

In London beherrscht allerdings ein anderes Thema die Tagung: Im Vorraum der Konferenzhalle hängt eine Fotoausstellung, die palästinensische „Märtyrerkinder“ zeigt. Man sieht tote Kinder, auf grünen Tüchern aufgebahrt und mit Blumen geschmückt, daneben weinende Männer oder klagende Frauen. Ihr Blick auf den Konflikt in Palästina eint die Muslime weltweit. Al-Qaradawi unterstützt den Unabhängigkeitskampf der Palästinenser, besonders seit dem Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000. Er initiiert Solidaritätsaktionen, sammelt Geld und prangert bei jeder Gelegenheit die fortdauernde Besetzung Palästinas an – ob im Fernsehen, im Internet, in seinen Freitagspredigten oder eben auf Konferenzen. Dabei geht er ziemlich weit: In seinen islamischen Rechtsgutachten rechtfertigt er palästinensische Selbstmordattentate als Mittel der Selbstverteidigung gegen die Politik Israels: Die Attentäter seien Märtyrer, keine Selbstmörder. An diesem Punkt ist Yusuf al-Qaradawi auf einer Linie mit vielen Gelehrten in der islamischen Welt. Selbstmord gilt im Islam zwar als Sünde. Doch in Palästina werde islamischer Boden und die heilige Stadt Jerusalem verteidigt, so der Konsens der Apologeten. Diese Sicht erlaubt es Gelehrten wie al-Qaradawi, einerseits die palästinensischen Selbstmordattentate als „Märtyrerakte“ zu rechtfertigen, den Anschlag auf das WTC sowie die Attentate islamistischer Gruppen auf Zivilisten in Indonesien, Saudi-Arabien oder im Irak dagegen ausdrücklich als Terror zu verurteilen.

Im Westen wird diese Haltung zumindest als paradox wahrgenommen, wenn sie nicht heftige Kritik erntet. Das gilt auch für andere Positionen von Yusuf al-Qaradawi: In seinem Werk „Das Erlaubte und das Verbotene im Islam“ aus dem Jahr 1960 vertritt er etwa die Meinung, dass Ehemänner zum Schlagen ihrer Frauen berechtigt seien und dass Homosexualität mit dem Tod bestraft werden müsse. Obwohl schon mehr als vierzig Jahre alt, wird das Buch immer noch unverändert neu aufgelegt. Aufgrund dieser Aussagen, die von einigen westlichen Zeitungen aufgegriffen wurden, ist al-Qaradawi in Bedrängnis geraten. Wohl nicht zuletzt deshalb hat er seine Aussagen relativiert. In einem Interview mit der Zeitung Le Monde stellte er kürzlich klar, dass Frauen grundsätzlich nicht geschlagen werden dürften. Im Übrigen aber vertrete er gegenüber Homosexuellen die gleiche Haltung wie der Papst, den er im letzten Jahr im Rahmen christlich-muslimischer Dialogveranstaltungen getroffen habe.

Für seine Bemerkungen zur Flutkatastrophe dürfte er nun jedoch neues Unverständnis ernten. In einer Predigt hatte sich al-Qaradawi zu der Aussage verstiegen, der Tsunami sei eine Strafe Gottes für die Dummheit und Verdorbenheit der Menschen, speziell aber für den Sextourismus in Südostasien gewesen. Dieses Urteil hielt ihn aber nicht davon ab, gleichzeitig zu Spenden für die Flutopfer aufzurufen, wie sie auch von al-Dschasira per Kampagne propagiert werden. Solche Widersprüche sind es, die al-Qaradawi im Westen sehr schillernd erscheinen lassen.

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