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dr. johann jekyll und mr. wolfgang hyde von JOACHIM SCHULZ

Kürzlich lernten die Liebste und ich einen hochsympathischen Menschen namens Johann kennen. Wir trafen ihn auf Bernds Geburtstagsparty, als wir zum Rauchen in den Garten gingen. „Johann!“, stöhnte er, nachdem er sich vorgestellt hatte: „Was für ein bescheuerter Name! Aber von meinen Eltern konnte man kaum eine intelligentere Wahl erwarten.“ Ich wollte erwidern, dass ich persönlich Johann für einen zeitlos schönen Namen hielte, doch bevor ich mich äußern konnte, hatten er und die Liebste bereits begonnen, sich über die genussunfähigen Figuren zu mokieren, die hinter der großen Wohnzimmerscheibe hockten, rauchfreie Luft atmeten, zuckerreduzierten Kuchen aßen und sich wahrscheinlich mit einem Palaver über die Fitnessprogramme ihrer Krankenkassen gegenseitig in Grund und Boden langweilten. Von dort aus kamen wir auf das sinnenlustige Leben der Mittelmeervölker zu sprechen, auf Rotwein und Coq au vin, auf Sonne, Oliven und Pinienduft – und bald hatte ich seine abschätzigen Bemerkungen über seinen Namen und seine Eltern vergessen.

Wenige Tage später begegneten wir ihm erneut. Wir zogen über den Wochenmarkt und stießen an Bauer Moraschs Eierstand fast mit ihm zusammen. „Bonjour, Freund des Mittelmeers! Schön, dich zu treffen!“, strahlte ich. Er aber starrte mich böse an. „Was soll das?!“, fauchte er: „Wie kommen Sie dazu, mich zu duzen?“ – „Na, wir haben doch neulich zusammen angetrunken auf einer Gartenbank gesessen und von abgelegenen Stränden auf Sizilien erzählt“, sagte die Liebste. Er aber wollte davon nichts wissen. „Daran müsste ich mich ja wohl erinnern, oder?! Scheren Sie sich weg! Also lassen Sie mich in Ruhe! Eine Unverschämtheit ist das!“, schimpfte er und stiefelte mit großen Schritten von hinnen.

„Anscheinend ist er der Urenkel von Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, murmelte die Liebste. Ich zuckte die Schultern. Auf jeden Fall sahen wir uns zur Vorsicht veranlasst, als er uns am Wochenende auf dem Bahnhofsplatz nochmals über den Weg lief. „Mes amis!“, sagte er lächelnd, merkte indes, dass wir zögerten. „Was ist?“, sagte er: „Erinnert ihr euch nicht mehr an mich?“ – „Doch, natürlich“, antwortete die Liebste, „aber als wir dich auf dem Wochenmarkt trafen, schien es, als ob du uns nicht mehr kennen wolltest.“ – „Auf dem Wochenmarkt?“ – „Am Mittwoch“, sagte ich. Schlagartig verfinsterte sich seine Miene. „Am Mittwoch war ich gar nicht in der Stadt!“, zischte er: „O, was habe ich mich in euch getäuscht! Ihr Verräter! Schufte! Kanaillen!“ Und wieder sahen wir ihn mit großen Schritten von hinnen stiefeln.

Wir tappten perplex nach Hause, und ich rief Bernd an. „Oje“, sagte er, „vermutlich habt ihr auf dem Markt nicht Johann, sondern Wolfgang getroffen.“ – „Wolfgang?“, rätselte ich: „Also doch Jekyll-and-Hyde?“ – „Nein“, sagte Bernd: „Es sind Zwillingsbrüder. Johann und Wolfgang – ich glaube, ihre Eltern hatten Großes mit ihnen vor. Aber sie hassen sich. Und am meisten hassen sie es, miteinander verwechselt zu werden. Ich schätze, Johann wird nie wieder ein Wort mit euch sprechen.“ Doch immerhin brauchen wir uns seitdem nicht mehr davor zu fürchten, von einem der beiden angegiftet zu werden.

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