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Auf der Schwelle zur Unendlichkeit

Beim Tourauftakt von Tocotronic in Bremen zeigt sich: Die Distanz zwischen der Band und ihren Fans ist größer geworden. Und das liegt nicht nur an Uli Wickert, der die Hamburger kürzlich in den Tagesthemen entdeckt hat

Tagelang war ich im Bann... Plitsch. Vom Glanz des Himmels übermannt... Gelächter. Das Feuerzeug ist der Konzertbesucherin in‘s Bier gefallen, aus Versehen. Großer Lacherfolg bei den Freunden. Das Feuerzeug im Bier. Jetzt zündet es nicht mehr. Ein Fleck Sonne dann und wann... Es wird ausgeholfen. Zigarette brennt, Bier schmeckt. Dringt durch mich. Ich bin gespannt... Also wieder auf die Bühne schauen. Mitgrooven. Und unentwegt verbeug‘ ich mich... Verbeugen? Stehen reicht. Stehen und Kopfnicken. Tourauftakt hin oder her.

Tatsächlich dauert es bis zur Zugabe, bis die erste und einzige Stage-Diverin sich vom Bühnenrand auf die Hände der Mitfans sinken lässt. Beim letzten Tocotronic-Konzert im Bremer Schlachthof vor gut zwei Jahren war das anders. Damals trug man sich ausgiebig gegenseitig auf Händen. Damals sang man noch textsicher mit. Irgendwie war man trotz ausverkaufter Halle unter sich. Damit ist Schluss, seit es Tocotronic mit ihrer Platte „Pure Vernunft darf niemals siegen“ kürzlich gar in die Tagesthemen geschafft haben und Uli Wickert mit großväterlichem Gestus meinte, so schockiert wie in den 1960er Jahren bei den Beatles seien die heutigen Mütter und Väter bei Kenntnisnahme von Tocotronic nicht.

Dazu gibt es auch weit und breit keinen Grund. „Ich heiße Sie auf das allerherzlichste Willkommen und wünsche einen angenehmen Abend“, heißt es zu Beginn des Konzerts. Die Fans springen nach diesen Worten sofort von den Sitzplätzen der Schlachthof-Arena, spontane Begeisterung, gespannte Erwartung, und dann kommt aus den Boxen: Ich habe Stimmen gehört. Ich habe Dinge gesehen. Stimmen? Dinge? Die Hände des Publikums wandern vom Begrüßungsbeifall zurück in die Hosentaschen. Ich hab die Schwelle gekreuzt – In die Unendlichkeit. Das Publikum bleibt trotzdem stehen, mit beiden Beinen auf der Erde.

Man steht da nicht nur aus Interesse, sondern auch aus Respekt, aus jener Ehrerbietung, die die FAZ dazu bringt, Sänger Dirk von Lowtzow nach den Unterschieden zwischen „Frühwerk und Haupt- oder Spätwerk“ zu fragen. Und man steht bei diesem Tourauftakt, weil man voller Hoffnung ist, dass die alten Songs gespielt werden. Lauthals werden „Freiburg“ und „Michael Ende“ gefordert.

Statt dessen aber kommen fast ausschließlich die Songs der neuen Platte, und die sind spröde, verrätselt, sperrig. Die lebensnahe Daseinsbewältigung zwischen Busfahrt und Supermarkt gibt es kaum noch, Tocotronic haben textlich an eine lyrische Parallelwelt angedockt, die kein schnelles Einfühlen zulässt. Im Feuilleton hat die Band damit abgesahnt, das Feiern beim Konzert aber wird schwierig. Nicht mal auf die Dreivierteltakt-Hymne „Pure Vernunft darf niemals siegen“ wird saalübergreifend reagiert – breite Wertschätzung aber ist zweifellos vorhanden.

„Freiburg“ kommt dann als Zugabe, und Sänger von Lowtzow sagt: „Vielen, vielen herzlichen Dank. Wir sind hocherfreut.“ Die Distanz zwischen Tocotronic und ihrem Publikum ist größer geworden. Aber man bleibt höflich und bescheiden und weiß, was man sich wert ist – so hat‘s die letzten zehn Jahre für Tocotronic noch immer funktioniert.

Klaus Irler

Konzerte im Norden: 13.3. Rostock (Mau Club), 14.3. Kiel (Max), 15.3. Hamburg (Große Freiheit), 4.4. Hannover (Capitol)

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