Den Praxistest nicht bestanden

Patientenverfügungen sollen ein Sterben in Würde ermöglichen. In den USA sind vorab festgelegte Therapieverzichte schon seit über 20 Jahren gesetzlich verankert. Eine umfassende Studie zeigt jedoch, dass sie nicht einhalten können, was sie versprechen

VON KLAUS-PETER GÖRLITZER

Um Leben und Tod geht es nächsten Donnerstag im Bundestag: Zur Debatte steht der „Zwischenbericht Patientenverfügungen“, erarbeitet von der Medizinethik-Enquetekommission. Mit Patientenverfügungen erklären Menschen, dass sie bei späterer Nichteinwilligungsfähigkeit, etwa im Koma oder bei fortgeschrittener Demenz, nicht mehr therapiert werden wollen. Die Enquete plädiert mehrheitlich dafür, solche Schriftstücke per Gesetz verbindlich zu machen, sofern das Grundleiden des Verfassers „irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tode führen wird“.

Vorreiterstaat bei der Legalisierung vorab verlangter Therapieverzichte sind die USA, wo Patientenverfügungen seit über 20 Jahren im Umlauf sind. Als geistiger Urheber gilt der Chicagoer Rechtsanwalt Luis Kutner. Schon Ende der 60er-Jahre plädierte er dafür, Patientenverfügungen („living wills“) rechtsverbindlich zu machen.

Zustimmung erhielt er von Euthanasie-Organisationen wie „Society for the Right to Die“ und „Concern for Dying“. Sie propagierten Kutners Idee, und schon bald konnten sie den ersten Erfolg feiern: 1976 beschloss Kalifornien den „Natural Death Act“, der Patientenverfügungen erstmals gesetzlich anerkannte. Diverse US-Bundesstaaten zogen nach, und im Dezember 1991 folgte der landesweite Durchbruch: In Kraft trat der „Patient Self-Determination Act“. Dieses Gesetz zur „Patienten-Selbstbestimmung“ betrifft alle Kliniken, Pflegeeinrichtungen und Hospize, die staatlich gefördert werden. Sie sind seither verpflichtet, Kranken zu erklären, dass Patientenverfügungen möglich sind und wozu sie nützen sollen.

Die Öffentlichkeitsarbeit verschlingt Zeit und Geld; der Bioethiker Jeremy Sugarman schätzt, dass US-Kliniken zwecks Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben allein Anfang der 90er-Jahre über 100 Millionen Dollar ausgegeben haben. Was solche Anstrengungen bewirkt haben, wollten zwei ForscherInnen der Universität von Michigan genauer wissen. Ergebnisse ihrer Untersuchung bilanzierten Angela Fagerlin und Carl E. Schneider im März 2004 im Fachblatt Hastings Center Report. Die Quintessenz der Studie steht schon in der Überschrift: „Genug. Das Scheitern der Patientenverfügung“.

Die AutorInnen, erklärtermaßen keine GegnerInnen voraus verfügter Lebensbeendigungen, haben über 100 Studien zu Patientenverfügungen und praktischen Erfahrungen damit ausgewertet. Auf dieser Basis folgern sie, derartige Willenserklärungen könnten gar nicht einlösen, was der damit verbundene Slogan von der „Patientenautonomie“ verheißt.

Rund 18 Prozent der US-BürgerInnen sollen eine Patientenverfügung geschrieben haben – ein Verbreitungsgrad, den Fagerlin und Schneider angesichts der aufwändigen Werbekampagnen niedrig finden. Die meisten Menschen würden sich lieber auf Angehörige und ÄrztInnen verlassen, sobald sie nicht mehr fähig sind, selbst zu entscheiden.

Diese empirisch gestützte Erkenntnis überrascht die Michiganer BioethikerInnen nicht: Sie halten es für praktisch unmöglich, schon im Vorhinein festzulegen, welche unbekannten Therapiealternativen zu unbekannten Krankheiten man irgendwann in Anspruch nehmen möchte oder auch nicht. In der Regel hätten PatientInnen kaum medizinische Kenntnisse, weshalb es ihnen schon bei vollem Bewusstsein schwer falle, dem juristisch entworfenen Ideal der „informierten Einwilligung“ in ärztlich angeratene Therapien gerecht zu werden.

Für nicht zweckdienlich halten Fagerlin und Schneider vorformulierte Verfügungen, wie sie auch in einer Aufklärungsbroschüre des deutschen Bundesjustizministeriums zu finden sind, welche „Textbausteine“ zum Abfassen einer Patientenverfügung auflistet. Sprache und Funktion von Formularen, meinen die Michiganer BioethikerInnen, seien für viele Menschen schlicht unverständlich.

Patientenverfügungen sollen einen Willen dokumentieren, der verlässlich und stabil ist. Wie schwierig dies ist, zeigen etliche US-Studien: Sie stellen fest, dass die Meinungen zu lebenserhaltenden Therapien schwanken können. Dafür spreche auch die Erfahrung, dass in den Vereinigten Staaten nur etwa jeder Zehnte, der einen Selbsttötungsversuch überlebt habe, in den folgenden zehn Jahren einen weiteren unternehme.

Keine signifikanten Belege haben die ForscherInnen dafür gefunden, dass die Option, eine verbindliche Vorabverfügung schreiben zu können, ÄrztInnen und Kranke stimuliere, sich frühzeitig und ernsthaft über Therapiealternativen bei lebensbedrohlichen Krankheiten zu unterhalten. MedizinerInnen äußerten sich in der Regel vage, die durchschnittliche Dauer eines Gesprächs mit PatientInnen liege bei gut fünf Minuten.

Den Praxistest, schließen Fagerlin und Schneider, hätten die beworbenen Verfügungen nicht bestanden. Sie fordern daher, die teuren Kampagnen zu beenden. Als Alternative empfehlen sie, Vorsorgevollmachten auszufüllen. Damit werden vertraute Menschen benannt, die stellvertretend für den Kranken bestimmen sollen, wenn der dazu nicht mehr in der Lage ist. Eine Garantie dafür, dass ein Bevollmächtigter später tatsächlich die Wünsche des Vollmachtgebers realisieren wird, sei dies zwar nicht – aber es könnte helfen.