: Allee des Gemeinsinns
HAUPTSACHE ARBEIT In den Opelvillen in Rüsselsheim werden künstlerische Positionen vorgestellt, die sich mit dem Umbruch der Arbeitsgesellschaft auseinandersetzen
VON URSULA WÖLL
Als sich Antje Schiffers 2003 um den Posten einer „Werkskünstlerin“ bei ContiTech Hannover bewarb, ging die Firma tatsächlich darauf ein und gab ihr einen Zeitvertrag. Als vermutlich erste dieser Profession schlug sie den einzelnen Abteilungen vor, ihnen ein Wandbild zu malen, das sich auf ihre Arbeit bezog. Denn das war nur in stetigem Austausch mit den Beschäftigten möglich, was der interaktiven Arbeitsweise der 1967 geborenen Künstlerin entsprach. Ihr Vorhaben nannte sie „Hauptsache man hat Arbeit“ und fragte nach weiteren Redewendungen, um Gespräche untereinander anzuregen. „ ‚Zieh, Ochse, wenn du keine Ausbildung hast‘, das sage ich immer, wenn ich den Geschirrwagen schiebe“, fiel etwa einer kroatischen Küchenhilfe spontan dazu ein. Am Ende wünschte sich das Küchenpersonal ein Gemälde, das seine multikulturelle Herkunft ausdrückte und erhielt es auch.
Die verschiedenen Wandbilder sind nun als Großfotos in der Ausstellung „Kunst zur Arbeit“ in den Opelvillen in Rüsselsheim zu sehen. Die großbürgerliche Villenanlage am Main wurde einst von der Familie Opel bewohnt und vor etlichen Jahren zu einem Kunstzentrum der Industrieregion ausgebaut. Sie liegt an der Route der Industriedenkmäler, durch ihre Glasfronten blickt man zwar nicht auf die Autowerke, aber auf gewaltige Raffinerietanks am jenseitigen Ufer. So ist der Ort bestens geeignet, Kunst zum Thema „Arbeit“ zu zeigen. Endlich, nachdem die gesellschaftliche Diskussion das Thema wiederentdeckt hat, wacht auch die Kunstszene auf und befreit es vom Klischee des Muskelmannes, der den Schraubenschlüssel schwingt. Denn nicht nur die Arbeit selbst hat sich gewandelt, sondern auch ihre künstlerische Reflexion. Gingen StudentInnen 68 ans Fließband, um für ihre Ideen zu agitieren, suchen Künstler heute Kontakt, um gegenseitig zu lernen.
Wie Antje Schiffers beziehen auch andere KünstlerInnen die Akteure selbst ein, um gemeinsam über ihre jeweilige Rolle in Betrieb und Gesellschaft nachzudenken. Durch seine Hartnäckigkeit erreichte der renommierte finnische Fotograf Tuomo Manninen, dass er im Opel-Werk Bochum fotografieren durfte. Es entstanden sorgfältig inszenierte Gruppenbilder, auf denen die abgelichteten Ensembles ihre Rollen und Requisiten weitgehend selbst bestimmen konnten. Ihre Präsentation als Gruppe musste in Diskussionen festgelegt werden, und das unterscheidet die Fotos, stärker als ihre Farbigkeit, von den klassischen Inszenierungen August Sanders, an die man spontan denkt.
Das gleiche interaktive Prinzip klingt auch bei der in Frankfurt lebenden litauischen Fotografin Ramune Pigagaite an. In ihrer Serie „Menschen meiner Stadt“ setzen sich ganz unterschiedliche Personen mit liebenswerter Selbstironie in Szene. In ihrer jüngsten Serie „People.Motors.Opel“ sind es Opelaner, was der Ausstellung großen Andrang der Rüsselsheimer Bevölkerung beschert.
Konsequenter geht das Münchener Künstlerduo Corbinian Böhm und Michael Gruber vor, das unter dem Namen Empfangshalle arbeitet. Das künstlerische Produkt wird zur individuellen Leistung von vielen, seine Entstehung zum kollektiven Prozess auf gleicher Augenhöhe, in dem der Künstler Stichwortgeber ist. Ihr aufwändigstes Projekt hat den Titel „Woher Kollege? Wohin Kollege? Was fühlst du, wenn du an Heimat denkst?“.
Der Aufmacher der von Beate Kemfert als Direktorin der Opelvillen kuratierten Ausstellung zeigt ein Foto aus diesem Projekt. Ein großes orangefarbenes Münchner Müllauto steht vor Bananenstauden und von Kindern umringt in einem afrikanischen Dorf. Das innen zum Wohnwagen verwandelte Gefährt wurde von dem Müllwerker Marc Provencal bis in seine Heimat Ghana gesteuert und dort fotografiert. Dagegen fuhr ein aus Italien stammender Müllarbeiter nur bis zum Brenner, um auszudrücken, dass er sich als Europäer fühlt und sowohl in München als auch Italien zu Hause ist. In die Projektentwicklung und -durchführung waren 28 Männer der Müllabfuhr einbezogen, so dass am Ende 28 Fotos aus den unterschiedlichsten Ländern existierten. Von 2003 bis 2006 fuhren diese Bilder dann auf den Müllautos plakatiert durch die Stadt München. Ein langer Film, der die Männer auf der Suche nach ihrem Heimatbild beobachtet und sie von ihren Erinnerungen, Träumen und Sehnsüchten berichten lässt, ist in der Ausstellung zu sehen.
Mit einem Film dokumentiert auch das Leipziger Künstlerkollektiv Reinigungsgesellschaft sein Projekt. Seit 1996 arbeiten Martin Keil und Henrik Mayer unter diesem Label zusammen. Als Kunstraum für ihr Projekt „The City of Cool“ wählten sie die Straßen des Industrie- und Arbeiterviertels Leipzig-Plagwitz, in dem die leer stehenden Hausruinen stumme Zeugen der gesellschaftlichen Fehlentwicklung sind. Mit Leiter und Werkzeug ausgestattet, montierten die Künstler Schilder mit neuen Straßennamen, die etwa an den „Unbekannten Arbeitslosen“ erinnern, aber vor allem dem Optimismus und der Utopie huldigen: Straße des bürgerschaftlichen Engagements, Straße des lebenslangen Lernens, der Globalisierungskritik, der Chancengleichheit oder der Eigenverantwortung, Allee des Gemeinsinns. Vierzigmal stiegen die Künstler auf die Leiter. Dabei beschleunigt sich das Aufnahmetempo der Kamera zunehmend, was der Aktion etwas Slapstickhaftes und Spielerisches gibt. Eingestreut sind Interviews mit Passanten, denn auch für Reinigungsgesellschaft ist die Kommunikation das A und O eines Projekts.
Damit auch die Ausstellungsbesucher zum Kommunizieren untereinander angeregt werden, hat Empfangshalle eine Wippe aus den Sitzen eines Sportstadions montiert. Nicht nur bei Schulklassen findet diese „interaktive Skulptur“ Anklang. Mit viel Spaß testeten 25 Männer die Wippe. Es waren Rüsselsheimer Müllwerker aus 13 Nationen.
■ Bis 6. September in den Opelvillen Rüsselsheim, www.opelvillen.de
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