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Bayer blufft sich selbst

Wie schlechte Pokerspieler lassen sich Leverkusens Fußballer gegen Hertha BSC ihren Vorteil wegnehmen, schalten auf Halma um und dürfen sich mit dem 3:3 am Ende glücklich schätzen

AUS LEVERKUSENDANIEL THEWELEIT

Nicht nur Wettfüchse hantieren mit Wahrscheinlichkeiten, nicht nur Berufszocker frönen ihrer Neigung, größtmöglichen Gewinn mit möglichst wenig Einsatz zu erwirtschaften. Offensichtlich lassen sich auch Fußballspieler gern einmal von solcherlei Aussichten verführen. Zumindest die, die bei Bayer Leverkusen spielen. Denn nach 12 Minuten des aufregenden Spiels gegen Hertha BSC Berlin glaubten sie ihren Gewinn – nämlich drei Punkte – in trockenen Tüchern. Sie ließen es fortan fast überheblich ruhig angehen, denn sie führten mit 2:0 und waren zudem noch ein Mann mehr, nachdem Dick van Burik wegen einer Notbremse vom Platz geflogen war. Doch wie unerfahrene Pokerspieler haben sie sich da ein leichtsinniges Fehlurteil geleistet. „Das war kein Fußball mehr, das war Halma“, schimpfte Klaus Augenthaler, nachdem das Spiel noch so manch weitere seltsame Wendung genommen hatte und am Ende mit 3:3 in die Statistik einging. „Wir haben der Hertha in die Karten gespielt“, sagte der Leverkusener Trainer.

Für Augenthaler war dieses Schauspiel eine Qual, während die Zuschauer bestens unterhalten wurden. Man konnte förmlich spüren, wie die Zweikämpfe ungleicher wurden, wie die Berliner mehr und mehr an Präsenz gewannen, und Trainer Falko Götz dirigierte in seinem Trainerkäfig, dass es eine Wonne war. Selten sieht man in der Bundesliga, dass ein Trainer so viel Gehör bei seinen im Spiel befindlichen Akteuren findet. Zumindest die Organisation der Defensive besorgte Götz wie ein überragender elfter Mann. „Wir sind erst nach dem 0:2 aufgewacht und haben in Unterzahl begonnen, meine taktischen Vorgaben umzusetzen“, meinte Götz, während Augenthaler kräftig mit dem Kopf schüttelte. „Nein, ihr seid nicht aufgewacht“, sagte er, „wir sind eingeschlafen.“

Wie dem auch sei, noch vor der Halbzeit egalisierte Marcelinho mit zwei Toren den fast aussichtslosen Rückstand. „Der Mann ist ein Traum“, freute sich Dieter Hoeneß. „Für mich ist er der beste offensive Mittelfeldspieler in der Bundesliga. Er allein hat uns mit seinen beiden Toren Leben eingehaucht“, so der Manager. Es war eine Partie, die verlief wie eine Sinusfunktion, und Neuendorfs Führungstor nach gut einer Stunde bescherte dieser Kurve einen weiteren Wendepunkt. Plötzlich erwachten die Leverkusener aus ihrem Zustand der Gemütlichkeit.

Dennoch klagte Augenthaler hinterher bitter über die verletzten Spieler. Besonders die Schwächen in der Viererkette prägten dieses Spiel. Die Weltklasseleute Juan, Roque Junior und Jens Nowotny fehlten, der Bruch zu den Alternativen wirkte in diesem Spiel wie die Schluchten des Grand Canyon. „Wir müssen diesen jungen Spielern helfen, sie leiten“, forderte Kapitän Carsten Ramelow, Klaus Augenthaler lächelte aber nur müde. „Wie sollen die denn helfen, wenn sie selber nicht auf der Höhe sind?“

Die Erfahrenen hatten sich eben verzockt, ihren Fehler aber immerhin früh genug eingesehen, um das Schlimmste zu verhindern. Nach dem 2:3-Rückstand und der langen Phase der Erholung steckte noch genug Kraft in den Knochen. Andrej Woronins ganz wunderbar von Bernd Schneider vorbereiteter Ausgleichstreffer war gegen immer müder werdende Berliner nur folgerichtig und hatte am Ende zwei Teams der Unzufriedenen zurückgelassen. Gleichermaßen als „gerecht“ (Götz/Augenthaler) wie „ärgerlich“ (Marcelinho/Ramelow) wurde der Endstand bezeichnet, denn in der Tabelle hilft dieser Punkt keinem wirklich weiter. Der Abstand zu den internationalen Plätzen wächst langsam bedenklich, „das tut jetzt schon weh“, meinte Ramelow. Und Thorben Marx ergänzte: „Bei uns in der Kabine hat die Enttäuschung überwogen. Wir hätten es auch mit zehn Mann über die Runden bringen können.“

Dennoch geht Hertha BSC „gestärkt aus diesem Spiel“ heraus, wie Dieter Hoeneß erklärte, denn diese Energie, die das Team in Unterzahl und trotz hohem Rückstand entwickelte, war einfach beeindruckend. „So etwas habe ich von meiner Mannschaft noch nie gesehen“, freute sich Götz irgendwann doch noch ein wenig. Und Bayer Leverkusen kann sich immerhin über die eindrucksvolle Erfahrung freuen, dass der Fußball eine Welt voller unerwarteter Wendepunkte ist. Und deshalb wartet ganz gewiss hinter irgendeiner Ecke wieder eine positive Überraschung auf diesen vom Verletzungspech gebeutelten Klub.

Bayer Leverkusen: Butt - Schneider, Callsen-Bracker (82. Castro), Placente, Dum (46. Franca) - Ramelow, Babic - Freier, Ponte, Krzynowek (74. Bierofka) - WoroninHertha: Fiedler - Friedrich, van Burik, Simunic, Fathi - Kovac - Marx, Marcelinho (82. Madlung), Neuendorf (90. Reina), Gilberto - Wichniarek (55. Rafael)Zusch.: 22.500; Tore: 1:0 Ponte (5.), 2:0 Butt (13./Foulelfmeter), 2:1 Marcelinho (24.), 2:2 Marcelinho (29.), 2:3 Neuendorf (62.), 3:3 Woronin (84.)Rote Karte: van Burik (11./Notbremse)

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