piwik no script img

die präsidentenredeEine Stimme unter vielen

Darf man dem Erlöser widersprechen? Die Hoffnungen, die sich derzeit mit dem Bundespräsidenten verbinden, haben quasi-religiöse Züge angenommen. Da es sich bei Horst Köhler wohl aber doch um einen Sterblichen handelt, kann man auch sagen: hysterische Züge. Die Erwartungen, die sich auf seine Grundsatzrede gerichtet hatten, waren so groß, dass er sogar für ein Kinderlied stehende Ovationen bekommen hätte. Das nennt man Medien-Hype.

KOMMENTARVON BETTINA GAUS

Horst Köhler selbst muss sich in diesem Zusammenhang kaum Vorwürfe gefallen lassen. Es ist verständlich, dass sich jemand für einen unerhört tiefen Denker hält, dem weite Teile der Öffentlichkeit diese Qualität lautstark bescheinigen. Verzeihlich ist unter diesen Umständen sogar sein Vorschlag, dass Experten künftig jeden Gesetzentwurf auf bestimmte Aspekte hin prüfen sollten. Als ob dies eine Neuerung und nicht längst die Regel wäre.

Alarmierend ist ein anderer Gesichtspunkt. Wenn öffentliche und veröffentlichte Meinung darin übereinstimmen, dass nun endlich das Wort eines „Überparteilichen“ vonnöten sei, um die nationale Krise zu entschärfen, dann drückt sich darin – ein weiteres Mal – ein tiefes Misstrauen gegenüber demokratisch gewählten Männern und Frauen aus. Und eine Sicht der Politik, die voraussetzt, es gäbe eine Lösung, die der gesunde Menschenverstand vorschriebe und die gar nichts mit Interessengegensätzen oder gar Klassenkampf zu tun hätte. Um ein altmodisches Wort zu benutzen.

Eine solche Sichtweise der Politik ist falsch, wie auch der Bundespräsident zu wissen scheint. Er hat im Wettstreit der Meinungen nämlich Stellung bezogen. Die hohen Lohnnebenkosten erklärte er zum „Kernproblem“ des Arbeitsmarktes. Und er deklarierte, die Bürger hätten sich „gern immer neue Wohltaten versprechen und Geschenke machen“ lassen. So sieht das – prinzipiell – auch die Opposition. Als ob die Bevölkerung für diese „Geschenke“ nicht selbst mit ihren Steuern bezahlt hätte.

Man kann eine andere Ansicht vertreten als Horst Köhler. Oder dieselbe. Wenn sich der Bundespräsident offensiv in den Streit der Meinungen hineinbegibt, dann ist er nur eine weitere Stimme unter vielen, der gegenwärtig allzu viel Gewicht beigemessen wird. Denn weder verfügt Köhler – qua Amt – über den Bonus des plebiszitär Gewählten noch über den des göttlich Erwählten. Und außerdem ist die Bergpredigt doch sehr viel konkreter als seine jüngste Rede.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen