: Das ist Discounter-Disziplin
Ein Mann will sein Nutella-Glas bei Lidl nicht bezahlen. Weil er es angeblich bei Plus gekauft hat. Netter Versuch. Aber so eine Story lassen sich findige Lidl-Verkäuferinnen nicht aufs Brot schmieren
von RICHARD ROTHER
Spätestens seit dem Erscheinen des gleichnamigen Schwarzbuches steht die Firma Lidl im Verdacht, ruppig mit ihren Beschäftigten umzugehen. Dass das Personal Druck von oben – mitunter geschäftsschädigend – an die Kunden weitergibt, verwundert nicht. Vermutlich hat die Geschäftsführung solche Kollateralverluste an der Umso-billiger-umso-besser-Front einkalkuliert – Hauptsache, die Discounter-Disziplin wird nicht untergraben. Letztlich lässt sich aber nicht zweifelsfrei klären, ob autoritäres Gehabe der Lidl-Untergebenen nur auf den Druck von oben zurückzuführen ist, oder ob es nicht auch ihren Charakteren entspricht, wie folgendes Beispiel zeigt.
Tatort ist ein kürzlich eröffneter Lidl-Markt am Berliner Stadtrand, Tatzeit ein Wochentagnachmittag, der mutmaßliche Täter ein Mittvierziger – Typ arbeitsloser Bauarbeiter – mit glasigen Augen. An der Kasse findet die Verkäuferin ein Nutella-Glas, das der Mann offenbar nicht auf das Band gelegt hatte. Der Verdacht, der vor versammelter Kundschaft verhandelt wird: Der Mann habe versucht, das Glas mit der Zuckerpaste zu stehlen.
„Das habe ich beim Plus nebenan gekauft“, meint der Mann, und fügt an, die Lidl-Halle nur deswegen betreten zu haben, weil es in dem anderen Supermarkt keine Batterien gegeben habe. Er müsse beweisen, dass er das Glas woanders gekauft habe, entgegnet die Verkäuferin. „Wo ist Ihr Kassenbon?“ Den habe er weggeworfen, sagt der mutmaßliche Ladendieb und Hartz-IV-Geschädigte. In dem Fall sei er verpflichtet, das Nutella-Glas beim Betreten des Supermarktes an der Kasse abzugeben, erregt sich eine andere Verkäuferin. Das habe er nicht gewusst, meint der Mann. Das versammelte Publikum schwankt: Manch einer schenkt dem Mann Glauben, andere sind auf der Seite der Verbrechensbekämpferinnen.
Die lenken schließlich ein: Er könne das Glas bezahlen und gehen, andernfalls müsse man die Polizei rufen. „Holen Sie doch die Polizei!“, ruft der Mann entrüstet. Wäre ein Ladendieb so kaltschnäuzig? Würde ein rational handelnder Mensch nicht das Problem aus der Welt schaffen und zahlen? Ist also der mutmaßliche Dieb zu Unrecht beschuldigt worden, und müsse man ihn nicht einfach laufen lassen, auch auf die Gefahr hin, ein Nutella-Glas möglicherweise abschreiben zu müssen?
Ob die Kassiererin diese Fragen mit ihrem Chef in dessen Büro erörtert, kann das Publikum nicht sehen oder hören. Dafür das Ergebnis, als sie wieder den Verkaufsraum betritt: „Wir gehen jetzt zusammen zum Plus“, fordert die Verkäuferin den Mann auf. Dann werde man ja sehen, ob er das Nutella-Glas dort gekauft habe. „Von mir aus“, sagt der Mann. Seine Jute-Tasche bleibt, quasi als Pfand, bei Lidl.
Nach einer knappen halben Stunde kommen beide wieder, das Publikum hat sich mittlerweile ausgetauscht. Der Mann erhält seine Tasche zurück, und die Verkäuferin setzt ihre Arbeit fort, als sei nichts gewesen. Eine Entschuldigung kommt ihr nicht über die Lippen, dafür die Bemerkung, es werde schließlich viel geklaut. Wie akribisch die Untersuchung im Plus-Markt war, berichtet der unschuldig Verdächtigte. Den ganzen Mülleimer habe man durchsucht, bis sein Kassenbon gefunden worden sei, auf dem auch das Plus-Nutella gestanden habe.
Bleibt die Frage, was Lidl die Aktion außer genervten Kunden und einer halben Arbeitsstunde gekostet hat. Mindestens einen Kunden. Der Mann: „Hier komme ich nie wieder her.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen