Sag nein zum Handy!

Mobiltelefone beherrschen uns. Warum eigentlich? Ein sachlicher Lagebericht

Dank seiner Stromlinienform gleitet das Handy gern in Trikotagen oder Sitzecken

Die Frühformen des Handys waren koffergroß und vor allem bei Militärs und Wirtschaftsmanagern verbreitet. Doch die Geräte schrumpften schnell auf handliche Backstein-, dann halbe Brikettgröße. Bis zu diesem Entwicklungsstand der Apparatur, der etwa im Jahr 1998 erreicht war, ließ sich ein Mobiltelefon nur relativ schwer verlieren.

Nach einem Zwischenstadium, in dem sich die Geräte weder in Jacken- noch in Hosentaschen stecken ließen, ohne schwer deutbare dicke Ausbuchtungen zu erzeugen, erweckte die Gürtelhandytasche den Trägertypus des aufschneiderischen Proleten zum Leben. Normklingeltöne, im besten Fall ungelenke Eigenkompositionen der Geräteträger, taten das ihre dazu, Mobiltelefone bei Empfindsamen verhasst zu machen.

Nach Verirrungen der Miniaturisierung, bei denen kaum mehr wahrnehmbare Tastaturen mit Hilfe von zahnstocherartigen Prothesen bedient werden mussten, war um das Jahr 2002 die Endgestalt des Handys – der zwetschgenförmige Handschmeichler – erreicht. Die Handyakzeptanz erreichte 72,39 Prozent, woran auch die mit dem Handy zu versendende Kurznachricht, kürzer: SMS, schuld war. Die direkte schriftsprachliche Funkmitteilung ermöglichte auch Schüchternen oder „Klemmies“ den Flirt aus der Deckung heraus. Der aus dem E-Mail-Verkehr stammende Begriff Spam wird seither auf Personen und verbale Privatwerbestrategien ausgedehnt.

Dank der anschmiegsamen Stromlinie seiner Formen glitt das Handy jetzt gern in Trikotagen und Sitzecken. Spezielle, Mänteln und Hosen applizierte Handyfutterale waren zur Aufnahme für Goliathhandys dimensioniert – ein Beleg für die divergenten Innovationsgeschwindigkeiten von Textil- und Telekommunikationsindustrie. Was zur unvermeidlichen Folge hatte, dass die Handys bei jeder Gelegenheit stiften gingen: beim Entern oder Verlassen eines Taxis, beim Bücken zum Befestigen der Fahrradklammern oder beim lässigen Ablegen der äußeren Oberbekleidung auf einem freien Kinosessel. Das Geräusch eines bei dieser Gelegenheit freigesetzten Handys, das sich über eine abschüssige Ebene im Dunkel eines Lichtspieltheaters ins Unbekannte vorwagt, kann noch nervtötender wirken als sein dann erschallender, analoger Klingelton, etwa ein Hahnenschrei.

Stummschaltung und Vibrationsalarm ließen zu den üblichen Haupttodesursachen für Handys (glitschige Hand über Bierglas oder Spülbecken, Verwechslung mit einem Stück Seife neben der Badewanne, Verschlucken durch leichtfüßige, wildfremde Hunde beim Sonnenbaden im Park) eine weitere hinzukommen: Fallenlassen aufgrund von Erschrecken. Bevorzugt auf Brücken und an der Reling von Dampfern oder Segeljachten kann die plötzliche Vibration eines Handys den Ungezieferabstoßreflex hervorrufen, was mit der Spontanmutation des Handys zum antriebslosen Kleinst-U-Boot bezahlt wird.

Sorge um den Handyverbleib hat eine spürbare Verhaltensänderung beim Wirt (Menschen) bewirkt. Er entwickelte einen siebten Sinn, den Handy-Ort-Sinn, der Außenstehenden durch ein leichtes Klopfen auf die Kleidung signalisiert wird. Handys werden als integre, lebenswichtige Organe empfunden, wodurch der Begriff „Organwahl“ für psychosomatische Störungen eine schillernde neue Bedeutung bekommt.

Die Amtseinsetzung des Handys zur zentralen Verwaltungs- und Planungseinheit des modernen Menschen hatte psychische Folgen. Das Gerät ermöglichte inzwischen Internetzugang und E-Mail-Abfrage, Bildaufnahme und -versand. Handyisten gerieten vermehrt in Abhängigkeit von eingehenden Meldungen und Anrufen. Deren Ausbleiben wurde – etwa bei urplötzlich geschnittenen Betriebsnudeln – als typischer Dauerstress empfunden (Meer-der-Ruhe-Syndrom). Handys wurden zur psychischen Implosionswaffe bei Mobbingdelikten. Obwohl inzwischen bekannt, wurden diese krankhaften Erscheinungen noch kaum Gegenstand von grundlegenden Diskussionen im Bereich Kommunikationstherapie und im organisierten Telekommunikationsverbrechen.

Dabei kann es so einfach sein, dem mehr und mehr bedrohlichen Handysog zu entfliehen. Sollte Ihnen, aus welchem sachfernen Grund auch immer, Ihr Handy einmal ins Klo gefallen sein, gehorchen Sie einfach dem Urreflex, der Sie als zivilisierter Mensch sofort bedrängt. Spülen Sie! Sie werden eine tiefe, innere Ruhe und Gelassenheit verspüren, während ihre Sorgen und ihr elektronisches Telefonverzeichnis neben anderem Unrat den Abfluss machen.

Natürlich werden Sie schon am nächsten Tag einen neuen handlichen Beherrscher Ihrer Sehnsüchte und Ihrer Mobilität in der Jackentasche haben. Doch das unbeschreibliche Gefühl der Gnade, ein Handy zu verlieren, wird Ihnen unvergesslich bleiben und vielleicht der erste Schritt sein zu einer dauerhaften Befreiung! TOM WOLF