Todesursache: Verzweiflung

Jedes Jahr beenden mindestens 2.000 Menschen in NRW freiwillig ihr Leben. Warum die Suizidraten in vielen Städten konstant hoch bleiben, erforschen Sozialmediziner der Universität Münster

VON MIRIAM BUNJES

Bei Hans-Ulrich Langendorff liegt fast jeden Tag einer. Sie sind von hohen Gebäuden gesprungen, haben versucht, sich mit Tabletten zu vergiften – und es hat nicht geklappt. Oder nicht sofort. „Die Zahl der Toten durch Selbstmord ist in Dortmund viermal so hoch wie die der Verkehrstoten“, sagt der Chef der Dortmunder Unfallchirurgie. „Wir tun natürlich alles, um das Leben dieser Menschen zu retten“, sagt Langendorff. „Aber bei uns ist ja schon Endstation. Die Krankheit der Selbstmörder hätte schon vorher behandelt werden müssen.“

Ungefähr hundert Menschen sterben in Dortmund jedes Jahr den Freitod. „Dazu kommen mindestens noch einmal so viele, die es ernsthaft versuchen“, sagt Unfallchirurg Langendorff. Die hundert Totenscheine, auf denen Dortmunder Ärzte „Suizid“ eingetragen haben, sind jedoch im Dortmunder Gesundheitsamt seit Jahren eine Konstante.

Warum so viele Menschen in Dortmund mit dem Leben abschließen wollen – und vor allem wie diese Toten verhindert werden können, weiß hier niemand. „Dabei ist diese Zahl unerträglich hoch“, sagt Ulrike Ullrich, Leiterin des sozialpsychiatrischen Dienstes der Stadt. „Sie hängt sicherlich auch mit der hohen Arbeitslosigkeit in der Region zusammen und damit, dass in Großstädten generell mehr Menschen mit Depressionen leben.“

Um sinnvolle Lösungsstrategien entwickeln zu können, lässt das Gesundheitsamt das Dortmunder Suizid-Phänomen zur Zeit an der Universität Münster untersuchen.

„Wahrscheinlich sind die Zahlen sogar noch höher“, sagt Klaus Berger vom Münsteraner Institut für Neurologie und Sozialmedizin. „Um die Ursachen für die hohe Selbstmordraten in so vielen nordrhein-westfälischen Städten herauszufiltern, müssen wir zuerst das Datenchaos ordnen.“ Polizeistatistiken, Obduktionsgutachten der Gerichtsmedizin, Totenscheine aus Kliniken und von ambulanten Ärzten – diese amtlichen Dokumente informieren über das tödliche Ende der Krankheit Verzweiflung. Bislang sind diese Daten jedoch unvernetzt und werden in jeder Gemeinde anders zusammengestellt. Die Münsteraner Forscher wollen deshalb zunächst eine vergleichbare Datengrundlage erstellen. Berger vermutet, dass neben der sozialen Situation der Bürger einer Stadt auch das sozialmedizinische Angebot und die Informationspolitik der Kommunen eine Rolle spielt. „In einigen Städten gibt es Kriseninterventionsstellen mit gerade mal drei Mitarbeitern“, sagt der Neurologe. „In anderen Kommunen sind sozialpsychiatrischer Dienst und Selbsthilfegruppen vernetzt. Das hat höchstwahrscheinlich Einfluss auf die Höhe der Suizidraten.“

Tatsächlich hat die Stadt Nürnberg genau so ihre Selbstmordrate halbieren können – und das innerhalb von zwei Jahren. In einem vom Bundesgesundheitministerium geförderten Modellprojekt wurde in der Frankenstadt ein „Bündnis gegen Depression“ ins Leben gerufen. Zahlreiche ÄrztInnen und PfarrerInnen, LehrerInnen und SozialarbeiterInnen wurden im Umgang mit depressiven Menschen geschult. Zwei Jahre lang liefen in Nürnberger Kinos Informationsspots über die Volkskrankheit Depression, in allen öffentlichen Gebäuden lagen Informationsbroschüren mit Kontaktadressen aus. Ergebnis: Schon nach einem Jahr brachten sich 25 Prozent weniger Nürnberger um.

„Das Land NRW hat bis jetzt noch nicht auf diese herausragenden Ergebnisse reagiert“, sagt Klaus Berger. Er hofft, dass seine Forschungen einen Anstoß geben, die Versorgungssituation für Suizidgefährdete zu verbessern. „Es hilft ja offensichtlich.“