: Tiftlingerodes Babyboom
Ein kleiner Ort am Fuße des Harzes macht vor, wie Deutschland der Vergreisung entgeht: Private Sponsoren richten Jugendzimmer ein, der Bürgermeister stellt sich als Babysitter zur Verfügung
von Daniel Wiese
Tiftlingerode, seit 1970 Ortsteil von Duderstadt, gelegen im toten Winkel zwischen Harz und ehemaliger DDR-Grenze. Der Ort hat eine Gymnastikhalle, in der Kirche steht eine Barockstatue des Heiligen Nikolaus. Das letzte „herausragende Ereignis“ verzeichnet die Dorfchronik im Jahr 1980: ein Besuch von Karl Carstens, dem wandernden Bundespräsidenten. „In den folgenden Jahren erlebte Tiftlingerode eine Blütezeit: Drei Brücken entstanden über die Muse, der Ort wurde ans Gasnetz angeschlossen.“
Was nicht in der Chronik steht: Als die Grenze zur DDR verschwand, ging es mit Tiftlingerode bergab. Viele Firmen zogen in den Osten, die Post musste schließen, ebenso die Bank. Selbst die Dorfkneipe hat vor zweieinhalb Jahren zugemacht. „Die jungen Leute ziehen weg“, sagte Ortsbürgermeister Gerd Goebel zur taz. Das war im Oktober 2004.
Nur wenige Monate später scheint sich das Blatt gewendet zu haben. Spiegel online, die Welt, das ZDF haben aus Tiftlingerode berichtet. „Prämien haben die Fruchtbarkeit in Tiftlingerode gesteigert“, meldete die Nachrichtenagentur dpa. Und morgen wird – das ist wohl einen Eintrag in die Dorfchronik wert – der Radiosender FFN live aus der Gymnastikhalle senden, sein Morgenmagazin. Um sechs Uhr früh nämlich wird am Donnerstag Bürgermeister Goebel den 1.000. Einwohner begrüßen.
Das Programm, mit dem der Ort die Gebärfreudigkeit stimulieren will, sucht in der Tat seinesgleichen. Für den 1.000. Einwohner gibt es ein Jahr lang kostenfreie Lottoscheine. Ein Mercedes wird für mindestens drei Monate umsonst zur Verfügung gestellt. Ein Jugendzimmer wird von einem Innenausstatter gratis gestaltet, es gibt Supermarktgutscheine, Eintrittskarten für den Zoo in Hannover, und als Babysitter stellt sich der Bürgermeister von Tiftlingerode selbst zur Verfügung.
Bezahlt werden die Vergünstigungen von privaten Sponsoren. Auch für andere Neugeborene gibt es Prämien, und überhaupt hat Tiftlingerode viel für seine Kinderfreundlichkeit getan. „Wir haben sechs Spielplätze, bei 1.000 Einwohnern ist das im Bundesdurchschnitt Spitze“, sagt Bürgermeister Goebel, hauptberuflich Redaktionsleiter beim Göttinger Anzeigenblatt Blitz. Ein Babysitterdienst wurde aufgebaut, ein Tagesmütterdienst soll folgen.
Dieses Jahr, sagt der Bürgermeister, werde die Geburtenrate um 100 Prozent steigen – elf Säuglinge werden erwartet. Seit es das Programm gibt, habe sich der Altersdurchschnitt in Tiftlingerode von „weit über 50“ auf „weit unter 50“ Jahre bewegt.
Noch immer hat die Dorfkneipe geschlossen, noch immer gibt es keine Post und keine Bank. Trotzdem wächst die Einwohnerzahl kontinuierlich, was nicht zuletzt an den billigen Baugrundstücken liegen dürfte. 50 Euro pro Quadratmeter, „in Hamburg bezahlen Sie das doppelte“, sagt Goebel. Das Neubaugebiet grenzt fast ans Naherholungsgebiet Pferdeberg, zur Schule ist es auch nicht weit. Außerdem liegen die hübschen Fachwerkhäuser von Duderstadt nur einen Kilometer entfernt.
Der Zuzug dürfte also auch eine Rolle spielen bei der wundersamen Einwohnervermehrung von Tiftlingerode. Wer aber zuzieht, zieht woanders weg. Gesamtgesellschaftlich betrachtet ist das keine Lösung, das weiß auch Bürgermeister Goebel: „Ich hätte es gern gesehen, wenn der 1.000. Einwohner in Tiftlingerode geboren wäre“, sagt er. Dem ist aber nicht so. Trotzdem wird am Freitag eine große Dorfparty gefeiert. Goebel hat 600 Liter Bier bestellt.
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