piwik no script img

Ein deutliches Statement

ZEITZEUGE Still und würdig ging es am Holocaustgedenktag im Bundestag zu: Marcel Reich-Ranicki sprach, das politische Establishment nahm sich zurück

Kein vordergründiges Wort der Mahnung, überhaupt keine Rede der großen Gesten. Reich-Ranicki sprach vielmehr als Zeitzeuge und Überlebender des Warschauer Ghettos

Marcel Reich-Ranicki hat eine gute, richtige, berührende Entscheidung getroffen. Seine Rede zum Holocaustgedenktag im Deutschen Bundestag – mit einer brüchigen, dünnen Stimme, die man bislang noch nicht an ihm kannte, und im Sitzen vorgetragen – hat der 91-Jährige nicht als Kommentar zur Erinnerungspolitik angelegt. Kein vordergründiges Wort der Mahnung, kein Wort zur aktuellen Situation. Überhaupt war es keine Rede der großen Gesten. Reich-Ranicki sprach vielmehr als Überlebender des Warschauer Ghettos, er erzählte, wie es gewesen ist; er ist einer der wenigen Menschen, die das noch können, die meisten Zeitzeugen sind ja bereits gestorben. So wurde diese vormittägliche Stunde in einem voll besetzten Bundestag, in dem es sehr still zuging, zu einem würdigen Moment des Gedenkens.

Was Reich-Ranicki erzählte, kennt man bereits aus seiner Autobiografie „Mein Leben“; aber das zu einem solchen Anlass noch einmal vorgetragen zu bekommen, ist natürlich etwas ganz anderes, als es nachzulesen. Reich-Ranicki berichtete von den Ereignissen des 22. Juli 1942. Hohe SS-Offiziere haben damals dem Judenrat des Warschauer Ghettos verkündet, dass die Juden „,nach Osten umgesiedelt“ werden sollten, und ihre Befehle zur Durchführung diktiert. Sprich, sie ordneten an, wie viel Juden sich wann wo einzufinden haben, damit die Viehwaggons der Eisenbahn mit ihnen beladen und in Richtung Vernichtungs-KZ auf die Fahrt geschickt werden konnten. Dieser Tag bedeutete, so Reich-Ranicki, „das Todesurteil für die größte jüdische Stadt Europas“.

Er selbst arbeitete, 22-jährig, als Übersetzer für den Judenrat; es war an ihm, die Anordnungen der SS ins Polnische zu übersetzen. Nur mit viel Glück überlebten Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Teofila, die er an diesem Tag heiratete, um sie vor der sofortigen Deportation zu bewahren, den Holocaust – Angestellte des Judenrats sowie ihre Ehepartner wurden erst einmal ausgenommen. Auch das hat er in „Mein Leben“ erzählt.

Das gesamte politische Establishment Deutschlands war bei der Stunde anwesend. Die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident, die hinter Reich-Ranicki den Bundestag betraten, sagten kein Wort; dass Christian Wulff während dieses Vormittags isoliert und eher wie eine Randfigur denn als Beteiligter wirkte, war vielleicht das einzige engere Politikum der ganzen Sache. Bundestagspräsident Norbert Lammert geleitete Deutschlands berühmtesten Literaturkritiker an seinem Arm in den Saal und hielt die Eröffnungsansprache.

Lammert fand den angemessenen Ton eines zurückgenommenen Pathos und nahm auf die „beispiellose Mordserie“ der NSU-Neonazis ebenso Bezug wie auf die kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellte Umfrage, nach der 20 Prozent der Bevölkerung weiterhin antisemitische Vorurteile haben. Lammert: „Genau 20 Prozent zu viel.“ Einhelliger Beifall des gesamten Bundestages. Im musikalischen Rahmenprogramm wurden Chopin und eine Sonate von Mieczyslaw Weinberg für Klavier und Violine gegeben. Glücklich gewählt auch das.

Die Entscheidung, Marcel Reich-Ranicki um eine Rede zu bitten, hatte eben Norbert Lammert getroffen. Auch das eine gute Entscheidung. Man unterschätze die symbolische Wirkung dieser Stunde nicht. Die Gedenkstunde war auch in ihrer Indirektheit ein deutliches Statement des Parlaments, dass es Menschenverachtung und Vernichtungsdenken niemals wieder politischen Raum einräumen will. DIRK KNIPPHALS

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen