Es liegt was in der Luft: Klingeln oder nicht?
Ich radle die Grimmstraße entlang, draußen ist es dunkel und glatt. Es liegt was in der Luft und es riecht nach Schnee. Ich habe natürlich mein Fahrradlicht an und fahre auf der mit einem weißen Streifen nur symbolisch von der Fahrbahn abgetrennten Fahrradspur. Plötzlich taucht aus der Dunkelheit vor mir aus dem Nichts eine Gestalt auf, die auf der besagten Fahrradspur vor mir her läuft. Nein, geradezu schlendert, würde ich sagen.
Ich möchte hier anmerken, dass ich eigentlich kein Klingler bin. Hupen und Klingeln werden meiner Meinung nach nur verwendet, um Leute zu erschrecken und Aggressionen im Straßenverkehr herauszulassen. Früher habe ich oft einfach „Vorsicht!“ gerufen oder gepfiffen, wenn vor mir jemand den Fahrradweg blockiert hat, und Autofahren kann ich gar nicht.
Nur, oft habe ich sehr zaghaft gerufen oder gepfiffen, weil ich die Leute vor mir ja bloß nicht erschrecken oder ihnen den Eindruck vermitteln wollte, ich sei aggressiv. Oft haben die Leute mich dann nicht gehört, und ich musste anhalten, absteigen und einen Bogen um sie machen. Vor ein paar Monaten aber bin ich von einem älteren Herrn angeschrien worden, der mein sanftes „Vorsicht!“ wohl nicht gehört hatte und an dem ich mein Fahrrad dann vorbeischob.
Wozu denn eigentlich die Klingel da sei, wollte er von mir wissen, sich so an ihn heranzupirschen, das wäre ja eine Unverschämtheit.
Seitdem bin ich ein Klingler geworden, und es funktioniert. Die Leute zollen mir und meinem Drahtesel mehr Respekt als vorher. Und mit diesem Gedanken im Kopf klingle ich auch heute. Die Gestalt dreht sich zu mir um, weicht keinen Schritt von der Fahrbahn und sagt mit Verachtung in der Stimme: „Scheiß Neukreuzbergerin!“ Er mustert mich genauer: „Scheiß Neuberlinerin!“ Es liegt was in der Luft, aber Liebe ist das nicht.
MAREIKE BARMEYER
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