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Rollendes Reck, kullernder Barren

Das Rhönrad: Von einem Jugendlichen aus Jux erfunden, von den Nazis als Propagandagerät missbraucht, mit Biedermann-Image behaftet. Jetzt trafen sich die Besten zur Weltmeisterschaft im Aachener Grenzland

AACHEN taz ■ Nie hat das Rhönrad, soweit bekannt, in die Weltgeschichte eingegriffen, weder taucht es in James-Bond-Filmen auf noch in der großen Literatur, und dennoch: Fast jeder kennt das kuriose Gerät aus zwei Stahlreifen mit Tritten und Griffen dazwischen. Und hält Rhönradeln für das gemächliche Tun von Figuren aus Großvaters Zeiten, die den Turnvater-Jahn-Gedächtnispreis ausrollen. Vergangene Woche fand die 6. Weltmeisterschaft der Rhönradturner statt – mit 150 Teilnehmern aus 18 Nationen gemeinsam und grenzübergreifend in Aachen und im ostbelgischen Bütgenbach.

Freitagabend, Sporthalle Nord in Aachen, die Einzelfinals: Da drehen sie sich, schleudern im Spagat, richten sich im Überschlag auf, wirbeln und kurven als Spirale herum in einem der seltsamsten Fortbewegungsmittel, das das menschliche Hirn je erfand. Immer bekämpft die Schwerkraft den Gleichgewichtssinn anders. Das muss hängend, drehend, stemmend ausgeglichen werden – kraftvoll und akrobatisch, möglichst lächelnd und elegant zu fetziger Musik. Wie sich ein Mensch in einem still liegenden Rad in die Senkrechte kreiseln kann, will schwer mit physikalischem Grundlagenwissen korrespondieren.

Das Rhönrad wirkt wie eine Mischung aus rollendem Reck, kullerndem Schwebebalken und ständig wechselnd geneigtem Barren. Und bei so einer WM geht es tatsächlich zu wie im ganz großen Sport: strengblickige Wertungsrichter, Medaillen, Hymnen, Klatschmärsche, Fanchoräle (darunter der im Weltsport unvermeidliche Oranje-Block der Holländer) und ein Siegertreppchen mit handgemalter 1,2,3. Auf deutsch und englisch kommt die Durchsage: „Die Delegationsleiter bitte zum Sofa.“

Achus Emeis, Student für Sportmanagement in Köln, durfte dreimal ganz oben aufs hölzerne Podest. „Unglaublich“, sagt der 28-Jährige, „bislang war ich nur einmal Zweiter.“ Ja, lacht er, bei der Hymne „bin ich emotional plötzlich labil geworden, der Druck auf den Schultern nach zehn Monaten harter Arbeit ist mir aus den Augen getropft.“ Das Tolle am Rhönrad? „Dass man immer neue Übungsteile aus dem normalen Turnen übertragen kann auf ein bewegliches Gerät. Und immer wenn sich alle zwei Jahre die Besten treffen, kommen wieder welche mit ganz neuen Ideen, Stilen und Inspirationen.“

Erfunden hat das Gerät vor rund hundert Jahren ein Junge namens Otto Feick. In Großvaters Schmiede hatte er zwei Weinfassreifen durch Querstäbe verbinden lassen. Kopfüber rollte der kleine Otto damit einen Abhang hinunter, um, wie ein Chronist schreibt, „unten durchrüttelt und zerschunden anzukommen“. Die Dorfjugend soll begeistert gewesen sein. 1925 ließ Feick in 30 Ländern sein Rhönrad patentieren – als „Gerät für Belustigungszwecke“. Heute könnte man es auch Artistik-Objekt für Staunzwecke nennen. Wo sonst gibt es eine Disziplin, bei der sich die Athleten fast immer komplett in ihrem Sportgerät befinden?

Aktive wie Achus Emeis wissen, wie wenig des Rades Besonderheiten geschätzt werden. „Rhönrad, wie bieder!“ höre er oft, „manche rümpfen auch die Nase, Stichwort Nazi-Propaganda, Olympia 1936.“ Trainingsaufwand? „Sieben Tage die Woche, jeweils zwei bis drei Stunden.“ Geld? Emeis lacht: „Vom DTB bekommen wir die Trainingsanzüge. Sonst nichts. Sponsoren Fehlanzeige. Nur bei Show-Galas von Firmen, da gibt es ganz gutes Honorar.“ Emeis hat gerade großes Glück. Er geht ein halbes Jahr nach England: Zirkus, Variéte, Shows. „Dafür machen sich die WM-Titel, vor allem der im Mehrkampf, natürlich besonders gut.“ Dumm nur: „Das habe ich versäumt in den Vertrag zu schreiben. Jetzt freuen sich allein die Veranstalter.“

Der Otto Feick von heute heißt Oswald Zimmermann. Er ist Schlossermeister im Taunus und baut fast den gesamten Rhönrad-Weltbedarf, „rund 160 Stück im Jahr, Preis ungefähr 900 Euro“, erzählt er auf der Zuschauertribüne. Davon könnten zwei Mitarbeiter und er leben, gerade hätten sie „Teilnehmern aus Israel, USA und Japan“ neue Räder mitgebracht. „Mit meinem Beruf Rhönradbauer hätte ich bei Robert Lembke das Schweinderl bestimmt vollgekriegt.“

Spät am Abend konnte sich auch Freddy Bruell, 33, einer der ehrenamtlichen deutsch-belgischen Co-Organisatoren und selbst Vierter in der Kür Gerade Linie, besonders freuen: „Endlich mal `ne andere Hymne.“ Nach lauter deutschen Titelträgern hatte „völlig überraschend“ (Bruell) die Japanerin Takako Hiwa in der Disziplin Sprung gewonnen. Und die kleine Frau wusste unter tosendem Applaus der 500 Rhönrad-Enthusiasten vor lauter Glück nicht, ob sie hemmungslos weinen oder Lachanfälle bekommen sollte. Sie entschied sich paritätisch für beides, immer abwechselnd.

BERND MÜLLENDER

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