WANDERSCHAFTSTAGEBUCH, TEIL V (UND SCHLUSS): Vielleicht sogar glücklich
studierter Kameramann, ist seit 1998 Daumenkinograph: Er wandert regelmäßig über Land, zeigt Daumenkinos und macht Fotos für neue. Foto: Susanne Schuele
Mit einem Bauchladen, auf dem sechs meiner Daumenkinos liegen, gehe ich regelmäßig auf Wanderschaft. Ich reise zu Fuß und zeige sie den Leuten am Straßenrand und über den Gartenzaun, besuche Dorffeste und führe meine Bilder abends in Kneipen vor. Diesen Sommer laufe ich von Oldenburg über Bremen, Hamburg, Lübeck und Wismar nach Rostock.
„Glücklich sind wir, wenn wir das Leben umarmen“, steht an der Wand eines Cafés in Wismar. Frau Glücklich, die Besitzerin, hatte mich zum Frühstück eingeladen. Viele Stunden verbrachte ich in ihrem Café. Mein Bauchladen stand vor mir auf dem Tisch, hin und wieder besuchten Gäste meine Ausstellung. Die Bedienungen lächelten mir zu, Frau Glücklich kam und ging und schien sich jedes Mal zu freuen, dass ich immer noch da war. Es ging mir gut, vielleicht war ich sogar glücklich.
Irgendwo zwischen Travemünde und Wismar war ich an einem Fischimbiss vorbei gelaufen, um 50 Meter weiter stehen zu bleiben: Etwas zog mich zurück. Vor dem Imbiss saßen eine junge Frau und ein junger Mann, Dani und Stefan. Dani erzählte mir, dass sie vor zwei Jahren mit ihren Eltern an die Ostsee gefahren war, nachdem sie sich von ihrer Jugendliebe getrennt hatte. Mehrmals hatte sie an Stefans Fischimbiss gegessen. Irgendwann fragte sie ihn, ob er Hilfe gebrauchen könne.
Seit zwei Jahren sind die beiden nun ein Paar. Sie leben von Mai bis Oktober in einem Wohnwagen hinter dem Imbiss. Stefan zeigt Dani, wie man Fisch räuchert und Dani achtet darauf, dass Stefan seine Augen regelmäßig tropft, damit sein Grüner Star nicht schlimmer wird. Dani lacht viel bei der Arbeit. „Warum soll ich nicht zeigen, dass es mir hier gut geht?“
Frau Glücklich schickte mich in eine Galerie. Sie wollte, dass alle Menschen, die ihr wichtig sind, meine Daumenkinos sahen. So lernte ich Andrea kennen, die zweimal in der Woche ehrenamtlich in der Galerie arbeitet. Andrea war um die 50 und erzählte mir, dass sie nach Wismar gezogen sei, um ihrer Arbeitslosigkeit etwas Positives abzugewinnen. Schon immer habe sie davon geträumt, am Meer zu leben. In ihrer neuen Plattenbauwohnung stand damals ein großer Wandschrank im Flur. Erst nach Monaten habe sie erfahren, dass es hinter dem Schrank eigentlich zwei Kinderzimmer gab. Die Türen hatte man zugemauert, um die Wohnung kleiner zu machen, wegen Hartz IV. Als Kind, das erzählte Andrea auch noch, habe sie ein Buch verschlungen, in dem Kinder eine geheime Tür in einem Wandschrank entdeckten. „Hinter der Tür im Wandschrank befand sich eine andere Welt. Diese Vorstellung fand ich sehr tröstlich.“
Ich traf ein altes Ehepaar. Frau Glücklich hatte extra angerufen, damit ich die beiden nicht verpassen würde, bevor ich meine Schlussetappe nach Schwerin anträte. Sie hatten seit Jahren jeden Film auf dem Wismarer Filmfestival gesehen. Nun saßen die beiden vor mir und ließen sich Daumenkinos vorführen. Die Situation hatte etwas Feierliches. Vielleicht, weil meine Wanderschaft bald zu Ende gehen würde. „Es ist schade, dass wir dich jetzt schon wieder verlieren“, sagten die beiden, „kaum dass wir dich kennen gelernt haben“. Nun wusste ich, was ich in Zukunft antworten würde, wenn mich wieder jemand fragt, warum ich jeden Sommer auf Wanderschaft gehe: „Weil mich das Leben umarmt! Und weil mir das Leben seine Geschichten erzählt!“ VOLKER GERLING
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