: Die Sprache versagte, und erst langsam kehrte sie zurück
Serhij Zhadan ist einer der bedeutendsten Intellektuellen der Ukraine und zurzeit auch Soldat. Sein Gedichtband über Sprache in Zeiten von Krieg und Raketenterror ist nun auf Deutsch erschienen. Er trägt den Titel „Chronik des eigenen Atems“
Von Jens Uthoff
Der Atem ist die Grundfunktion des Lebens. Mit ihm beginnt alles, und mit einem letzten Ein- und Ausatmen endet alles. In der Lyrik des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan ist der Atem ein Leitmotiv. In seinem Gedichtband „Antenne“ (2020) schrieb er: „Sprache ist Atem, gefüllt mit Sinn. / Sprache ist die trügerische Chance, / jemanden daran zu hindern, / von der Brücke in die Seine zu springen.“ Zhadan ist nicht nur Autor, er ist auch Sänger der Rockband Zhadan i Sobaky (Zhadan und die Hunde). Für ihn gehören Atem, Intonation, Singen, Erzeugung von Bedeutung und Möglichkeit des Ausdrucks zusammen. Doch der Atem ist bereits in „Antenne“ auch verbunden mit dem Krieg in der Ostukraine und dem Kampf für die Freiheit: „So atmen wir unsere Freiheit aus / … so besingen wir die Gefallenen im goldenen Sand des/ Frühabends.“
Serhij Zhadans neuer Gedichtband heißt auf Deutsch „Chronik des eigenen Atems“. Darin widmet sich der Schriftsteller der Sprache und dem Sein in Kriegszeiten. Die Texte sind zwischen Dezember 2021 und Juni 2023 entstanden; jene im ersten Teil des Buchs vor Beginn des russischen Angriffskriegs, jene im zweiten Teil danach. Die nach dem 24. Februar 2022 geschriebenen Gedichte erzählen von einem Phänomen, das viele ukrainische Schriftstellerinnen und Schriftsteller damals an sich beobachteten: die Sprache versagte, erst langsam kehrte sie zurück. Der russische Überfall auf die Ukraine stellt vermeintliche Gewissheiten infrage wie den „durch nichts gerechtfertigten Glauben der Sprachmenschen daran, dass man alles benennen kann, alles seinen Namen hat“, wie Zhadan schreibt.
Man kann in diesem Band abgleichen, wie sich die Sprache Zhadans verändert hat; man kann staunen, wie poetisch das Wiederfinden der Sprache klingen kann, wenn er beispielsweise schreibt, „dass die Sprache stärker ist als die Angst des Schweigens, sie soll mit sich die Brusttaschen des Lebens füllen“. Oder wenn er die Grenzen des Ausdrucks benennt: „Es gibt Zeiten, da werden die Wörterbücher um das Vokabular des Schweigens erweitert, da sind nicht nur Satzzeichen wichtig, sondern auch Atempausen, da formt sich der Klang aus diesem wundersamen Gemisch von Gesagtem und Erspürtem, Verschwiegenem und Erlesenem.“
Serhij Zhadan ist nicht nur ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und einer der bedeutendsten Intellektuellen der Ukraine, er ist zurzeit auch Soldat. Als Freiwilliger trat er im Frühjahr 2024 der ukrainischen Armee bei, gehört der 13. Brigade der Nationalgarde an. Dort absolvierte er eine Grundausbildung, und er hat den Rundfunksender Radio Khartia mit aufgebaut, über den er aus dem Bataillon und aus Frontnähe berichtet. An die Front musste er noch nicht, Zhadan produziert Videos, führt Interviews, zum Beispiel mit einem Politanalysten oder einem Rapper. Aktuell schreibt er entsprechend wenig. „Das Wort muss jetzt einfach etwas warten. Es ist jetzt wichtiger, dass wir uns verteidigen, damit wir dann später wieder Bücher herausgeben und Gedichte schreiben können“, sagte er dem SFR Anfang Oktober. Im Ukrainischen ist der nun auf Deutsch vorliegende Band schon 2023 erschienen, also vor der Zeit seines Militäreinsatzes.
Serhij Zhadan: „Chronik des eigenen Atems. 50 und 1 Gedicht“. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Suhrkamp, Berlin 2024, 124 Seiten, 20 Euro
In den Gedichten zeigt sich schon da ein verändertes Literaturverständnis Zhadans. Für mörderische Angriffskriege wie den russischen braucht es seines Erachtens eher die Sprache des Dokumentarischen, die deskriptive Sprache, erst im Laufe der Zeit werde Poesie wieder möglich – die schriftstellerische Aufarbeitung des Kriegs verlegt er eher in die Zukunft.
Doch die Dialektik der Sprache ermögliche es auch, einen Ausdruck für das Nichtauszudrückende zu finden: „Viele Gedichte wird es geben über die Unmöglichkeit von Poesie nach den Gaskammern, über die Unangebrachtheit von Literatur in Gerichtssälen“, schreibt er im Nachwort dieses Buchs in Anspielung an Adorno. Das passt zu dem, was Zhadan schon 2020 in der Anthologie „Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe“ formuliert hat: „Der Krieg ist nicht gemacht für Literatur. Und doch ist es unmöglich, nicht über den Krieg zu schreiben. Über den Krieg muss geschrieben werden.“
Im Ukrainischen trägt der Gedichtband den Titel „Skrypnykivka“. Er geht zurück auf den Begründer der ukrainischen Orthografie, Mykola Skrypnyk, und auf die 1928 verabschiedete ukrainische Rechtschreibung. Was für ein sprechender Titel, spielt er doch darauf an, was das russische Regime gern vernichtet sähe: eine eigenständige ukrainische Sprache und Kultur.
Doch vor dem Schreiben kommt das Überleben, kommt das Luftholen. „Der Atem ist ein kostbares Ding“, stellt Zhadan in einer Passage dieses Buchs fest. Der Mann weiß, wovon er spricht.
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