Grenzkonflikt in Zentralasien: Nah und doch so fern
Wegen ungelöster Konflikte ist die Grenze zwischen Tadschikistan und Kirgistan geschlossen. Leidtragende sind vor allem Familien, die so getrennt werden.
In einem kirgisischen Dorf an der Grenze zu Tadschikistan beginnt der Tag für die Tadschikin Farangiz (der Name wurde geändert; Anm. d. Red.) am frühen Morgen: Die Kinder müssen für die Schule fertig gemacht werden, ihr Mann muss zur Arbeit. Die Kirgisen und Tadschiken sind Nachbarn, doch jetzt sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern angespannt. Seit über zwei Jahren ist die gemeinsame Grenze geschlossen, der Waren- und Personenverkehr gestoppt. Verwandte und Freunde, die nur eine Straße voneinander trennt, können sich nicht mehr treffen.
Alles geht auf die Ereignisse vom September 2022 zurück, als es auf beiden Seiten zahlreiche Opfer gab. Zwischen Kirgistan und Tadschikistan kommt es immer wieder zu bewaffneten Konflikten um umstrittene Abschnitte der Staatsgrenze, doch vor zwei Jahren eskalierte die Situation.
Der Grenzverlauf zwischen den beiden Staaten ist ein Erbe aus Sowjetzeiten und seit Jahrzehnten Auslöser von Zusammenstößen. Dabei geht es häufig um Wasser und Land. Sowohl Kirgistan als auch Tadschikistan gehören der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) an. In diesem Bündnis spielt Russland eine Schlüsselrolle und fungiert häufig als „Vermittler“ in Konflikten zwischen den Vertragsstaaten. Das Interesse Moskaus an der Aufrechterhaltung des Status quo ist offensichtlich – andernfalls wäre die Lieferung von Militärtechnik an beide Länder vor und unmittelbar nach dem Ausbruch eines Konfliktes wohl kaum zu erklären.
Wenn dieser Fall eintritt, beschuldigen sich stets beide Seiten, die jeweils andere provoziert zu haben. Nach Angaben der kirgisischen Behörden habe der jüngste bewaffnete Konflikt aufgrund einer Grenzverletzung durch das tadschikische Militär begonnen. Dieses habe das Feuer eröffnet, als es zum Verlassen des Territoriums aufgefordert worden sei. Tadschikistan jedoch beschuldigt Kirgistan: Das Vorgehen der kirgisischen Seite sei eine geplante Provokation und Aggression gewesen. Die tadschikischen Grenzschutzbeamten seien gezwungen gewesen, das Feuer zu erwidern.
„Meine Mutter habe ich seit über zwei Jahren nicht gesehen“
Oftmals beginnt alles damit, dass sich die Bewohner von Grenzgebieten mit Steinen bewerfen, woraufhin die Militärs beider Länder in den Konflikt eingreifen, es kommt zu Schießereien, Opfern, Flüchtlingen … Im September 2022 wurden allein nach offiziellen Angaben auf beiden Seiten mehr als 100 Menschen getötet. Viele wurden obdachlos, ihre Häuser sind immer noch nicht wieder bewohnbar.
„Alle Verwandten meines Mannes behandeln mich gut. Während des militärischen Konflikts sorgten sie sich genauso wie ich um meine Verwandten. Meine Mutter habe ich seit mehr als zwei Jahren nicht gesehen“, sagt Farangiz traurig. Sie vermisst nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihr Zuhause. Und sie sagt, dass ihr Telefongespräche nicht ausreichten. „Mama ist schon älter. Wenn ihr etwas passiert, sie krank wird oder … ich könnte nicht einmal dorthin fahren“, sagt die Frau unter Tränen. Ihren richtigen Namen will sie nicht nennen, da die Beziehungen zwischen den Vertretern der beiden ethnischen Gruppen in der Region nach wie vor angespannt sind.
Doch jetzt geht es wieder aufwärts. Langsam verbesserten sich die Beziehungen, sagt Nasirschon Tayirow, Vorsitzender der tadschikischen Diaspora in der Region Sumbul in Kirgistan. Diese liegt ebenfalls an der Grenze zu Tadschikistan. Offiziellen Angaben zufolge leben hier etwa 16.000 Menschen, die Hälfte davon Tadschiken. Laut der nationalen kirgisischen Statistikbehörde zählen sie neben Usbeken, Russen, Dunganen und Uiguren zu den fünf wichtigsten ethnischen Minderheiten in Kirgistan.
Nasirschon Tayirow ist in Kirgistan geboren. An heißen Nachmittagen sitzt er mit den Dorfbewohnern auf einem Taptschan, einem hölzernen Gestell, im Schatten der Bäume, trinkt starken grünen Tee und diskutiert über die neuesten Nachrichten. Alle verstehen sich, trotz erheblicher Sprachunterschiede: Kirgisisch gehört zur Gruppe der Turksprachen, Tadschikisch zur Gruppe des Iranischen.
„Konflikte nützen niemandem“
Einheimische Tadschiken verstehen Kirgisisch und sprechen es auch, aber häufig mischt sich in die Unterhaltung auch Russisch, das immer noch die offizielle Sprache der interethnischen Kommunikation ist. Auch äußerlich unterscheiden sich die Vertreter verschiedener Ethnien allenfalls an ihrer Kopfbedeckung: Die Mehrheit der Kirgisen trägt einen weißen Filzhut, den Ak-Kalpak, Tadschiken bevorzugen den Tokit, eine Wollmütze.
„An Orten wie diesen haben Kirgisen und Tadschiken schon immer zusammengelebt“, sagt Nasirschon Tayirow. „Konflikte nützen niemandem. Es ist unmöglich, irgendwelche Ziele zu erreichen, indem man gegeneinander kämpft. Früher waren die Grenzen offen, wir haben uns gegenseitig besucht. Das geht jetzt nicht mehr. Mein Sohn lebt dort seit etwa elf Jahren. Ich habe ihn und meine Enkelkinder seit zwei Jahren nicht gesehen“, sagt Tayirow.
Hunderte Kirgisen leben auch in Tadschikistan. Dort haben sie mit Tadschiken Familien gegründet, studieren oder führen gemeinsame Unternehmen und pflegen familiäre Beziehungen.
Kanykej Stambekowa aus Kirgistan kommuniziert mit ihren Eltern und Brüdern seit fünf Jahren nur über das Telefon. 2017 lernte sie ihren tadschikischen Ehemann Rachimdschon Radschabow in Russland kennen. Sie verliebten sich ineinander und beschlossen zu heiraten. Jetzt lebt Stambekowa, die in einem Kindergarten arbeitet, mit ihrem Mann und zwei Kindern in der Stadt Buston im Norden Tadschikistans.
„Manchmal sehe ich meine Eltern und Brüder im Traum“
„Meine Verwandten waren zunächst gegen die Heirat, aber die Verwandten meines Mannes hatten kein Problem damit. Mit der Zeit hat meine Familie seine Familie kennengelernt und verstanden, dass sie gute Menschen sind. Jetzt sind alle zufrieden“, erzählt Stambekowa.
Ihr Eheglück wird nur dadurch getrübt, dass sie ihre Familie fünf Jahre lang nicht gesehen hat. Wegen der Coronapandemie konnte sie zwei Jahre lang nicht nach Kirgistan reisen. Die Grenzen sind weiterhin geschlossen. Niemand wisse, wann die Behörden beider Länder eine Einigung erzielen und den Menschen wieder ermöglichen, sich frei zu bewegen und ihre Familien wiedersehen zu können.
„Manchmal sehe ich meine Eltern und Brüder im Traum. Gott sei Dank gibt es Telefone. Sowohl sie als auch ich – wir wünschen uns so sehr, dass sich die Beziehungen zwischen unseren Ländern verbessern, damit wir uns treffen können.“ Stambekowa hat Angst, über Russland oder ein anderes Land nach Kirgistan zu reisen, weil sie befürchtet, dass sie nicht zu ihrem Mann und ihren Kindern zurückkehren darf. Personen mit einem kirgisischen Pass ist die Einreise nach Tadschikistan untersagt, ebenso wie Inhabern eines tadschikischen Passes die Einreise nach Kirgistan.
„Deshalb will ich kein Risiko eingehen. Ich warte jetzt darauf, dass die Straßen wieder geöffnet werden. Ich vermisse meine Eltern und Brüder sehr. Aber was soll ich machen, ich muss das aushalten“, stellt Stambekowa mit Bedauern fest.
Die rettende Idee: Ein Treffen in Usbekistan
„Die Menschen sind doch nicht schuld an diesen Ereignissen. Selbst während des Grenzkonflikts im September 2022 haben mich meine tadschikischen Nachbarn und Kollegen nicht schlecht behandelt, sie haben mich immer unterstützt“, erzählt die Kirgisin.
Wie Stambekowa hat auch die kirgisische Studentin Aigul (Name geändert; Anm. d. Red.) ihre Verwandten seit Jahren nicht mehr in den Arm genommen. Sie studiert an der Staatlichen Universität Chudschand (KGU) in Tadschikistan. Die junge Frau befürchtet, dass sie nach einer Reise zu ihrer Familie in Kirgistan nicht mehr nach Tadschikistan zurückkehren und ihr Studium beenden kann.
„Ich komme aus dem Gebiet Batkenskaja und habe mich für die KGU entschieden, weil es von der Hochschule nicht weit zur Grenze ist. Ich habe mit meinem Studium 2020 begonnen. Zunächst wurde aufgrund der Coronapandemie eine Quarantäne verhängt, ein Jahr später kam es zu Zusammenstößen an der Grenze und es wurde ein Grenzübertrittsverbot verhängt. Seitdem konnte ich nicht mehr nach Hause fahren“, sagt Aigul. In dieser Zeit habe ihre Mutter ein weiteres Kind zur Welt gebracht, doch ihren jüngeren Bruder habe sie nicht besuchen können, sagt Aigul. Doch dann kam sie auf eine Idee. „Ich habe vorgeschlagen, meine Familie in der usbekischen Hauptstadt Taschkent zu treffen, drei Autostunden von Chudschand entfernt. „Da meine Mutter aus Usbekistan stammt, habe ich sie gebeten, nach Taschkent zu kommen. Wir haben uns dort getroffen und ich habe endlich auch meinen jüngeren Bruder zum ersten Mal gesehen“, sagt Aigul.
Diese Treffen sind für sie finanziell aufwändig und für die Reisen geht viel Zeit drauf. Daher hofft Aigul, dass sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern weiter verbessern, die Grenzen geöffnet werden und sie ihre Mutter und ihren Bruder öfter wird sehen können.
Zentralasien in Zahlen und Fakten:
Zentralasien: Zu der Region im Zentrum des eurasischen Kontinents gehören fünf Ex-Sowjetrepubliken: Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan Turkmenistan und Usbekistan. Auf einer Gesamtfläche von 3,8 Millionen Quadratmetern leben mehr als 80 Millionen Menschen (Stand 2024). Die Region grenzt im Süden an Afghanistan und Iran, im Osten an China sowie im Westen und Norden an Russland.
OVKS: Der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit, die 1992 gegründet wurde, gehören Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgistan, Russland und Tadschikistan an. Das Hauptziel der OVKS besteht darin, die Mitglieder vor bewaffneten Angriffen von außen zu schützen. Jährlich führen die Streitkräfte gemeinsame Manöver durch. In den 31 Jahren des Bestehens des Vertrags haben drei Staaten die Organisation verlassen: Aserbaidschan, Georgien und Usbekistan traten 1999 aus. Usbekistan kehrte 2006 zurück und verließ die Organisation 2012 erneut. 2023 intensivierte sich aufgrund des Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach sowie der Passivität Russlands die Diskussion über die Präsenz Armeniens in der Organisation. Am 12. Juni 2024 erklärte Premier Nikol Paschinjan, dass Armenien keine andere Möglichkeit sehe und die OVKS verlassen werde.
Die Geschichte von Konflikten zwischen Tadschikistan und Kirgistan: Tadschikistan und Kirgisistan trennt eine 970 Kilometer lange Staatsgrenze. Gleichzeitig ist etwa die Hälfte dieser Grenze nicht eindeutig markiert, weshalb Grenzbewohner beider Länder Probleme mit dem Zugang zu Wasser, Weideflächen und Straßen haben. Die ersten Verhandlungen zwischen Kirgisistan und Tadschikistan zur Grenzfrage fanden Ende 2002 in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek statt, ein Jahr später folgte ein Treffen in Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans. Es ging um die Frage, welche Dokumente der Bestimmung der Grenzlinie zugrunde gelegt werden sollten. Kirgisistan schlug vor, sich auf Dokumente aus den Jahren 1955–1959 zu stützen, während Tadschikistan auf Karten von 1924–1927 bestand. Da ein Konsens nicht erzielt wurde, kam es zu ersten Konflikten. Die Auseinandersetzungen endeten mit Schießereien, Blutvergießen und Angriffen auf besiedelte Gebiete in der Grenzregion. Im September 2022 kam es zum schwersten Konflikt, bei dem allein nach offiziellen Angaben mehr als 100 Menschen ums Leben kamen. Derzeit versuchen beide Staaten, die Frage der Grenzziehung zu klären. Im Laufe von zwei Jahren wurden mehrere Dutzend Standorte in den umstrittenen Grenzgebieten identifiziert. Die Kontroverse besteht über rund 100 Kilometer der Staatsgrenze. In den 30 Jahren der Unabhängigkeit der Länder kam es im Fergana-Tal immer wieder zu Grenzkonflikten. Auch zwischen anderen Ländern Zentralasiens brachen Konflikte um Grenzgebiete auf.
Wirtschaftliche Folgen des jüngsten Konflikts: Im September 2022 wurde der Handelsverkehr zwischen Kirgistan und Tadschikistan vollständig eingestellt. Zuvor war statistischen Daten zufolge das Volumen des bilateralen Handels von 49,6 Millionen US-Dollar im Jahr 2018 auf 15 Millionen US-Dollar im Jahr 2022 gesunken. Die Exporte gingen jeweils um fast das Zehnfache zurück, die Importe um das Vierfache. Der starke Rückgang erfolgte vor dem Hintergrund von Meinungsverschiedenheiten über die Festlegung der Grenzen. Auch die Beziehungen zwischen den beiden Nationen verschlechterten sich. Neben dem Handelsbeziehungen hatte sich auch der lokale Tourismus entwickelt. Häufig nutzten Bewohner benachbarter Länder den internationalen Flughafen in der Hauptstadt Kirgistans für Flüge ins Ausland. Doch auch diese Möglichkeit hat Tadschikistan verloren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!