Carolina SchwarzKlang und Krach: LieberOhrwurmals Albtraum
Ich war 19 Jahre alt, als ich die schlausten Sätze gehört habe. So kam es mir damals jedenfalls vor. Sie stammen aus dem deutschen Coming-of-Age-Film „Absolute Giganten“ (1999). Darin sagt die Hauptperson Floyd zu einer Frau: „Es müsste immer Musik da sein. Bei allem, was du machst. Und wenn’s so richtig scheiße ist, dann ist wenigstens noch die Musik da.“ Unfassbar schön fand ich diese Vorstellung. Heute denke ich, dass dieses Szenario längst Realität für mich geworden ist. Und es häufig gar nicht so angenehm ist, wie ich es mir vorgestellt habe.
Denn in meinem Kopf ist immer Musik. Allerdings kein Streicherquartett, das mir dramatische Situationen mit klassischen Tönen untermalt, sondern nervige Ohrwürmer, die sich wie aus dem Nichts in mein Hirn pflanzen und nicht mehr verschwinden wollen. In diesen Tagen – und ich möchte mich an dieser Stelle kurz bei meinen Kolleg_innen entschuldigen – ist es N-Yos Liedzeile: „And I’m so sick of love songs“. Wie der R’n’B-Hit aus den 00er Jahren in meinen Kopf kam? Keine Ahnung. Ich habe ihn seit Jahren nicht gehört.
Warum und wie diese Endlosschleifen im Kopf entstehen, ist wissenschaftlich nicht endgültig geklärt. Auch nicht, bei welchen Liedern es passiert und wer davon wie oft betroffen ist. Was klar ist: Ohrwürmer treten eher in Alltagssituationen auf, in denen das Arbeitsgedächtnis nicht ausgelastet ist. Eher bei Frauen und Musiker_innen. Und eher bei einprägsamen Melodien und Texten, die starke Gefühle auslösen.
So zahlreich die Theorien über die Entstehung von Ohrwürmern sind auch die Tipps, wie man sie wieder loswird. Das Lied einmal komplett durchhören. Einen ganz anderen Song singen. Ein Sudoku oder Kreuzworträtsel lösen, das aber nicht zu schwer oder zu leicht sein darf. Oder einen Kaugummi kauen.
Ich habe die Tipps alle ausprobiert. Bei mir funktionieren sie nicht. In meinem Kopf singt immer noch Ne-Yos Stimme von den Liebesliedern, die er nicht mehr hören möchte.
Ähnlich wie mit den unliebsamen Liedfetzen geht es mir auch mit Bildern. Sie tauchen unangekündigt in Alltagssituationen auf und lassen sich nicht einfach mit einem Augenblinzeln wegwischen. Manchmal stehe ich dann an der Supermarktkasse und denke an Szenen, die ich vor Jahren einmal beobachtet habe. Wie etwa an eine bettelnde Frau mit Verletzungen im Gesicht, die von allen Passant_innen ignoriert wird.
Manchmal liege ich abends im Bett und fange an mir bildlich vorzustellen, wovon ich in den Nachrichten gelesen habe. Und es ist schwer einzuschlafen, wenn der Kopf voller detaillierter Kriegs- und Vergewaltigungsdarstellungen ist.
Carolina Schwarz ist Ressortleiterin bei taz zwei und vertritt diese Woche Erica Zingher.
Hier erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: „Geraschel“ von Doris Akrap
Aktuell tauchen in meinem Kopf vor allem Bilder auf, von Dingen, die noch gar nicht passiert, aber möglich sind. Schreckensszenarien, welche Folgen es hätte, wenn Donald Trump nächste Woche wirklich zum Präsidenten der USA gewählt wird. Was passiert, wenn er umsetzt, was er in seinen hetzerischen Reden im Wahlkampf ankündigt hat: „An meinem ersten Regierungstag wird diese Invasion enden und die Deportationen beginnen.“ Wie er Migrant_innen abschieben, Frauen und Queers in ihren Rechten beschneiden und die Gesundheitsversorgung, den Kampf gegen die Klimakrise und die Demokratie Stück für Stück abbauen wird.
Oder was passiert, wenn er die Wahl nicht gewinnen wird. War der Sturm aufs Kapitol am 6. Januar dann nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was kommen wird?
Die Bilder in meinem Kopf, sie sind voller Gewalt. Und sie machen mir Angst.
In diesen Momenten bin ich dann froh über meine Ohrwürmer, denn die Melodien helfen mir die Schreckensszenarien zu verdrängen. Und immerhin weiß ich: „Selbst wenn’s so richtig scheiße ist, dann ist wenigstens noch die Musik da.“
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