Irritationen vorm Fenster: Während die anderen schreiben
Unsere Kolumnistin schaut aus dem Fenster und lässt sich beim Nichtstun stören: ein sonderbarer Weg nach außen und weg von den eigenen Gefühlen.
I ch sitze in einem Seminar, das ich selbst leite, und während die Seminarteilnehmer*innen schreiben, sehe ich rückwärtsgewandt aus dem Fenster in ein Fenster gegenüber, in dem ein fast nackter Mann sich reckt. Fast, weil er noch eine Unterhose trägt, eine von den eng anliegenden, aus Jersey, mit breitem Gummibund. Er steht auf etwas, vielleicht auf einem Stuhl, vielleicht auch auf dem Fensterbrett, denn ich kann ihn im Ganzen sehen, von den Füßen bis zum Kopf, er füllt das Fenster mit seinem Körper aus, der Fensterrahmen ist sein Rahmen.
Er ist ein Bild, das ich betrachte, während um mich herum geschrieben wird und ich gerade keine Rolle spiele. Ich muss nicht schreiben und nichts sagen. Ich betrachte den fast Nackten, der sich reckt, die Arme erhoben, er sieht mich nicht, er könnte es, aber er tut es nicht. Er ist mit was beschäftigt?
Ich bin mit ihm beschäftigt, um mich herum sind sie mit ihren Texten beschäftigt, ich bin außerhalb von allem. So fühlt es sich für mich an. Gefühle sind selten intelligent oder richtig. Aber man soll sie annehmen und umarmen, das habe ich in den letzten Wochen gelernt, nicht verinnerlicht. Ich beobachte lieber, aus dieser Position des Außerhalb von allem, als meine Gefühle zu umarmen.
Ich beobachte den fast nackten Mann, ich lasse ihn nicht aus den Augen, die Luft zwischen uns, zwischen den beiden Fenstern – unten die schmale Straße –, ist milchig, sie hat eine traurige und resignierte Konsistenz (Ich weiß nicht, ob ich ihnen, die jetzt schreiben, diese Adjektivzuschreibungen für Luft durchgehen lassen würde), das Licht, das sanfte, bricht sich in den Staubkörnchen, in dem Gespinst, das die Tage im Herbst so voll und satt macht, und all das bildet den feinen Schleier, der zwischen uns liegt, dem fast nackten Mann und mir. Und dass ich nicht weiß, was er hat, was er da aufführt, für wen, für mich?
Um mich herum wird geschrieben. Die Ruhe der Arbeit. Ich betrachte. Ich bin in Sicherheit und warte. Darauf, dass sie gleich fertig sind und ihre Augen und Ohren wieder mir zuwenden, dass ich wieder eintrete, in die gemeinsame Welt. Während ich meine Augen nicht von dem Mann lassen kann. Der eine Störung darstellt, eine Irritation, weil ich ihn nicht verstehe. Seine Bewegungen an diesem Fenster, seine Streckung, seine Fastnacktheit, sein Ausharren in diesem Zustand. Zeigt sich jemand, sehe ich hin, ich kann nicht anders. Das gilt für alles, für den Zustand der Welt.
Am Morgen schon lese ich die Nachrichten. Ich sehe die Verlorenen, die vielleicht noch nicht verloren sind, am Bahnhof, wo ich wohne. Ich sehe, wie sie da auf dem Mäuerchen kauern, höre sie brüllen und streiten. Ich sehe es alles, aber es ist immer zu wenig. Es reicht nicht aus für mich, um zu verstehen. Verstehen ist heut nicht im Angebot, „ham wa nicht da“. Es erreicht mich manchmal, selten, blitzartig, unerwartet. Mehr bekomme ich nicht, mehr darf ich nicht erwarten. Schreib das auf, Katrin! Das ist ein Weg, ein (schwacher) Halt.
Die Seminarteilnehmer*innen sind fertig. Sie legen ihre Stifte weg, sehen mich an. Sie vertrauen mir und einander ihre Texte an. Ich bin gerührt. Geschichten sickern in mich ein, Text ist ein Weg, kein Ausweg. Ein Blick zum Fenster: Der Mann ist weg. Wo er war, ist jetzt nur noch Weiß, wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Er hat ein Rollo angebracht.
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