Berliner Volksbühne: Nur Pollesch inszeniert Pollesch
Bis die Rechte an seiner Arbeit freigegeben sind, kann es dauern. Ein Stück ihres verstorbenen Intendanten hat die Volksbühne aber noch im Repertoire.
Martin Wuttke sucht die richtige Schlafstellung. Erst rollt er sich auf der King-Kong-Riesenhandfläche wie ein Embryo zusammen, klettert dann Richtung Daumen und klemmt sich am Schluss wie ein Brett zwischen Daumen und Zeigefinger. Seine Arme gehorchen der Schwerkraft und hängen sackartig-schwer nach unten. Wuttke ruht aus vom Leben mit den ewigen zwei Möglichkeiten. Er schöpft kurz Kraft für das weitere Philosophieren über den Knacks, den Sprung, den ein Leben bekommen kann.
René Pollesch hat diese Gedanken eineinhalb Jahre vor der Pandemie in ein humorvoll-melancholisches Stück eingebettet, das im Schauspielhaus Zürich zur Uraufführung kam. „Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini Studien)“ hat eine neue Heimat gefunden im Pollesch-Fixstern Volksbühne.
Mehr als ein halbes Jahr nach dem plötzlichen Tod des Volksbühnen-Intendanten sitzt man in diesem Theater, das er neben Frank Castorf, Christoph Schlingensief und Christoph Marthaler so geprägt hat, und ertappt sich dabei, wie man anhand der sechs Jahre alten Inszenierung überprüft, ob der Regisseur und Autor René Pollesch altert. Und erlebt schon beim Auftritt des Trios Wuttke, Kathrin Angerer und Marie Rosa Tietjen den ersten Glücksmoment.
Mit entwaffnendem Charme dekonstruiert hier Pollesch die klassischen Bühnenmittel, nachdem er sich von Bühnenbildnerin Barbara Steiner einen Vorhang und viele Showleuchten auf die Bühne hat setzen lassen. Dem Bühnenpersonal den großen Auftritt zu ermöglichen, diesen aber im Live-Moment durch dasselbe Personal negieren zu lassen und das mit einer Aura von spielerischer Leichtigkeit zu umgeben, das ist Pollesch-Regie at it’s best.
Polleschlose Zeiten werden anbrechen
Dem gebürtigen Hessen gelang es immer wieder neu, als Autor und Regisseur Leichtigkeit zu erschaffen, die nichts gemein hatte mit Oberflächlichkeit. In Verbindung mit der von ihm entwickelten neuartigen Form des entspannten kollektiven Nachdenkens auf der Bühne verschafft ihm das ein Alleinstellungsmerkmal im deutschsprachigen Theaterkosmos. Nur Pollesch inszeniert Pollesch, war seine Prämisse. Polleschlose Zeiten werden also anbrechen, bis die Rechte an seinen Werken freigegeben sind.
Noch sitzt man in der Berliner Volksbühne, die ohne Intendanten vorerst nur mit Interimsleitung weitermacht, weiterexistiert, und genießt diese Pollesch-Inszenierung als langen Theatermoment. Man genießt konkret das scheinbar antriebslose Rumstehen des qualifizierten Bühnenpersonals und empfindet es als Privileg, an dessen (und Polleschs) Gedanken über Theater, Leben, Tod und eben den Knacks im Leben andocken zu können.
„Man denkt, man hätte sein Leben vergessen, aber das Problem ist nicht, das man es vergessen hätte, sondern es sprachlich nicht zu greifen ist. Man kann das nicht beschreiben, nicht nachträglich zu einem Konzept machen, es ist nicht fassbar“, schreibt Pollesch 2018. Wuttke sagt weiter: „Man hat doch keinen guten Ausgang, wenn vorher alles richtig war…. Das Leben kann nicht gut ausgehen, aber der Knacks. Der kann das wohl.“
Es ist der immens hohe Grad an Aufrichtigkeit, der bei diesem Versuch, das Leben zu (be)greifen, berührt und einen die Poren weit öffnen lässt, um bei dieser Suche keine Abzweigung zu verpassen. Die wunderbarsten Pfade sind die, die plötzlich an den verwunschensten Orten vorbeikommen, zum Beispiel einer Autowaschanlage. Pollesch hat hier für Kathrin Angerer, die neben Sophie Rois wohl die begnadetste Pollesch-Darstellerin ist, einen bildergesättigten Sprach-Slapstick geschrieben, den Angerer mit der ihr eigenen ernsthaften Verwunderung performt.
„Ich weiß nicht, was ein Ort ist, ich kenne nur seinen Preis (Manzini-Studien)“ läuft wieder am 27. Oktober, am 19. und 27. November sowie am 25. Dezember an der Berliner Volksbühne
Meine Lieblings-Pollesch-Gedanken-Pirouette ist in diesem Stück: „Aber warum ist der Knacks so tief? Der ist doch nur an der Oberfläche. So ein Teller hat doch kein dramatisches Innenleben. Wie kommt der letztlich nach innen? Und was ist das überhaupt: das Innen. Was soll das dann sein? Das sind die Fragen, die sich anschließen.“ Das Volksbühnen-Publikum schickt den Applaus Richtung Bühnenhimmel.
Es fällt wieder auf: Polleschs Texte und sein Regie-Humor haben in diesem Theater ihren idealen Resonanzraum. Es braucht genau diesen Bühnenraum, diesen Saal als Echoraum und dieses Publikum, damit diese besondere Pollesch-Energie entsteht. Pollesch würde vermutlich kommentieren: „Wir brauchen noch ein Ende. Klatschen Sie nicht zu laut. Die Welt ist sehr alt. Sie könnte einen Sprung kriegen.“
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