Doku über NS-Regisseurin: „Riefenstahl ist aktueller, als uns lieb sein kann“
Der Dokumentarfilmer Andres Veiel zeichnet in „Riefenstahl“ ein großes Porträt der NS-Regisseurin. Diese sieht er als geschickte Manipulatorin.
taz: Herr Veiel, hat Leni Riefenstahl nach 1945 über ihre Rolle im Nationalsozialismus systematisch gelogen?
Andres Veiel: Ja. Das ist ja bekannt.
taz: Warum dann 2024 einen Film über sie?
Veiel: Es gibt erst mal unterschiedliche Schichtungen der Lüge. Im Mai 1945 hat sie sehr viele Dokumente verbrannt und angefangen, eine Legende zu bauen, die aber noch nicht perfekt war. Sie hat noch geübt und behauptet, dass sie mit Politik nichts zu tun hatte.
wurde 1959 in Stuttgart geboren. In Westberlin studierte er Psychologie und absolvierte eine Dramaturgieausbildung. Zu seinen Dokumentarfilmen gehören „Black Box BRD“ (2001) und „Beuys“ (2017), zu seinen Spielfilmen „Wer wenn nicht wir“ (2011), der wie „Beuys“ im Wettbewerb der Berlinale lief.
taz: Hat sie nach 1945 ihre Lügen variiert?
Veiel: Ja. Ein Beispiel: Sie war im September 1939 kurz nach dem deutschen Überall im polnischen Końskie, um die Siege der Wehrmacht zu dokumentieren. Dort wird sie Zeugin eines der ersten größeren Massaker an Juden. Das bestreitet sie bis 1950 nicht. Nach 1950 behauptet sie, von dem Massaker nichts unmittelbar mitbekommen zu haben, weil sie verstanden hatte, dass diese Zeugenschaft widerlegt, dass sie von dem Mord an den Juden nichts wusste. Es gibt innerhalb dieser Lügen Verschiebungen, um die Kontrolle zu behalten.
taz: Was ist in Końskie passiert?
„Riefenstahl“. Regie: Andres Veiel. Deutschland 2024, 120 Min.
Veiel: Die Juden wurden gezwungen, ein Grab für vier getötete deutsche Soldaten auszuheben. Riefenstahl soll, so beschreibt es ein Wehrmachtsangehöriger, angeordnet haben, dass die Juden aus dem Bild verschwinden müssen. Sie wollte ein sauberes, judenfreies Bild. Darauf hin sind die Juden noch mal misshandelt und geschlagen worden. Sie haben versucht, zu entkommen, die Deutschen haben mit einem Maschinengewehr 22 ermordet. Glaubt man dem Wehrmachtsangehörigen, dann hat Riefenstahl diese Tat nicht verursacht, aber direkt katalysiert.
taz: In dem Film sieht man ein Foto, das sie im Augenblick dieses Mordes zeigt – mit schreckgeweiteten Augen. Wusste Riefenstahl später, dass sie lügt?
Veiel: Zu Beginn einer neuen Erzählung, ja. Sie ist eine geschickte Lügnerin, sie schafft es, auch kritische Journalisten einzuschüchtern, um im nächsten Moment zuckersüß zu fragen: Aber wollen Sie nicht noch eine Tasse Kaffee?
taz: Glaubt sie ihre eigenen Lügen?
Veiel: So manipulativ zu sein gelingt nur, wenn man selbst daran glaubt. Sie ist keine Strategin der Lüge, so wie Albert Speer, der durchdacht daran arbeitete, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und sich als von Hitler verführter Bürger zu inszenieren. Riefenstahl arbeitet intuitiv, wie eine Schauspielerin.
taz: Wenn sie in Talkshows oder Gesprächen leugnet, verdreht, zeigt der Film diese Momente oft in Zeitlupe. Ist das keine zu eindeutige Art, den Fokus auf ihre Verdrängungskünste zu lenken?
Veiel: Nein. Wir wissen, dass sie eine Verdrängungskünstlerin war. Mich interessiert ihr Repertoire, ihr Instinkt. Sie wusste, wann sie lächeln, wann sie empört sein musste, wann sie feuchte Augen einsetzt. Die Zeitlupe versucht nicht, sie der Lüge zu überführen, sondern die Strategien sichtbar zu machen, mit denen sie die Stimmung dreht.
taz: Es gibt reichhaltige Forschungen zu ihrer Biografie. Was ist neu an Ihrem Film?
Veiel: Wir haben ihren umfangreichen Nachlass ausgewertet, 700 Kisten mit vielen unbekannten Dokumenten. Mich hat interessiert: Wofür steht ihre Lüge? Muss sie lügen, weil die Schuld zu groß ist? Oder weil sie immer noch der NS-Ideologie verhaftet ist und die Schuld verkleinern muss, um diese Ideologie zu verteidigen?
taz: Und?
Veiel: Letzteres. In ihrem Nachlass finden sich von ihr aufgezeichnete Telefongespräche, oft mit Anrufern, die mit ihr sympathisierten. Im Film hört man ein Gespräch, in dem jemand behauptet, es werde noch ein, zwei Generationen dauern, bis Deutschland wieder zu Anstand und Moral zurückkehrt. Gemeint ist die Zeit vor 1945. Riefenstahl antwortet: „Ja, die Deutschen haben die Anlage dafür.“
In einem Brief behauptet sie, dass die Juden sie bis an ihr Lebensende verfolgen werden. Es war für mich neu, wie konsistent sie der NS-Ideologie nach dem Krieg treu bleibt. Der zweite neue Aspekt ist die Bedeutung der erlittenen Gewalt in ihrem Leben. Sie wurde als kleines Mädchen von ihrem Vater ins Wasser geworfen und behauptet, dass sie dabei fast ertrunken wäre. Und berichtet stolz, dass sie eine gute Schwimmerin wurde. Gelobt, was hart macht. Ihr Vater hat sie misshandelt, ihr Ehemann hat sie geschlagen.
taz: War Riefenstahl ein Opfer?
Veiel: Ich finde die individualpsychologische Sicht oder gar eine Entlastung weniger interessant als den preußischen Drill als Generationsphänomen. Das Besondere ist: Sie macht als Frau diese Erfahrung. Ihr wird systematisch in den Leib geprügelt, der bessere Mann zu sein. Deshalb ist ihr die rechtsextreme Erzählung nach 1918 nah: Die Schwachen sind am Krieg zerbrochen. Wir gehen gestärkt hervor und sammeln uns um den Führer für den Kampf.
Sie kämpft nicht gegen die Franzosen, sondern bei den Bergfilmen mit unglaublichen Entbehrungen, lässt sich ohne Helm in Gletscherspalten filmen, hat Kopfverletzungen, Erfrierungen, lebenslang einen Nierenschaden. Das muss alles ausgehalten werden. Die Identifikation mit dem Starken, Schönen, Siegreichen und die Abwehr jeder Form von Schwäche ist ein Knotenpunkt, der ihre Biografie und ihre Ästhetik verbindet. Diese Verknotung zeigt „Riefenstahl“. Gleichzeitig ist diese Feier des Starken und die Verachtung des Schwachen, Kranken das Ur-Gen des Faschismus.
taz: Sie haben 18 Monate an dem Film geschnitten. Warum so lange?
Veiel: Aus zwei Gründen. Riefenstahl ist eine dramaturgische Herausforderung. Es gibt bei ihr keinen dritten Akt. Sie hat keine Entwicklung, keine Katharsis. Ihr Leben hört bei der Exposition auf. Der Moment, in dem die Heldin merkt, dass sie in der Sackgasse steckt und jetzt das Haus in die Luft sprengen muss, fehlt. Wir mussten eine andere Erzählform finden. Der zweite Grund: Wir haben viele Aktualisierungen ausprobiert. Also Bilder von Putin, der als Imperator inszeniert wird. Soldaten, die als Masse inszeniert werden. Wir haben auch Bilder der Eröffnung der Olympiade in Peking montiert, die ästhetisch an Riefenstahls Film über Olympia 1936 erinnern.
taz: Warum hat das nicht funktioniert?
Veiel: Es passte nicht. Das Material aus dem Nachlass haben wir sehr fein akzentuiert. Man kann nicht dort mit der Pinzette arbeiten, dann mit Aktualisierungen zu gröberem Werkzeug greifen.
taz: Ist Riefenstahl eine historische Figur, ohne gegenwärtige Bezüge?
Veiel: Nein, sie ist eine aktuelle Figur.
taz: Die Identifikation mit dem Aggressor – in der Szene mit dem Vater – war typisch für den klassischen autoritären Charakter. Der Rechtsextremismus heute speist sich aus einer individualisierten Form von Wut. Die Unterordnung unter die Macht spielt eine geringe, das Ich eine große Rolle. Wie aktuell ist die Figur Leni Riefenstahl?
Veiel: Ich sehe Parallelen. Es gibt wie in den 1920er Jahren eine kollektive Erfahrung von Krise und Kontrollverlust. Deshalb wächst das Bedürfnis nach einer ordnenden Hand. Die rechtsextremen Narrative sind ähnlich: Hier der Volkswille, dort Eliten und Medien, die die Welt im Griff haben.
taz: Die rechtsextremen Höckes sind aber bundesdeutsch liberal erzogen und nicht von preußischen Vätern ins Wasser geworfen worden.
Veiel: Das kann sein. Aber Figuren wie Höcke und Krah fordern die Rückkehr zum Maskulinen, Starken, Männlichen. Das Heroische soll den Feminismus verdrängen. Der Mann soll als Verteidiger der Familie und der Familienehre wieder ins Zentrum rücken. Das inthronisiert physische Kraft und Gewalt. Es gibt fast 30 Prozent, die solche Ideen wählen. Ich fürchte, dass Riefenstahl aktueller ist, als es uns lieb sein kann.
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