Zoom auf Mary

„Eines langen Tages Reise“ nach O’Neill am Staatstheater Nürnberg in der Inszenierung von Rieke Süßkow

Foto: Konrad Fersterer

Von Sabine Leucht

„Hallo?“ sagt die Mutter, erst fragend, schließlich verärgert, denn niemand reagiert. Mann und Söhne sind mit sich selbst beschäftigt. Mit Trunksucht und dem American Dream vom sozialen Aufstieg, an dem die Familie Tyrone zerschellt. 1956 hat Eugene O’Neill „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ geschrieben. Das Stück, das dieses Zerschellen zu einem Tag komprimiert.

Auf der Bühne dauert das gewöhnlich drei Stunden. Rieke Süßkows Inszenierung am Theater Nürnberg braucht nur eineinviertel. Das „Hallo!“ von Mary Tyrone kommt von einer Geige, während Schauspielerin Stephanie Leue nur die Lippen bewegt. „Instrumentalversion“ nennt die Regisseurin ihren Abend. Wer Süßkow kennt, weiß, dass sie keine Kompromisse macht. Sie hat eine Idee und setzt diese mit aller Konsequenz um. Zweimal wurde die 34-Jährige schon zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Ihre aktuelle Frage: Kann man die Geschichte der Tyrones mit Musik erzählen? Zweifel sind angebracht, denn es stimmt zwar, dass die vier Hauptfiguren viel reden, ohne etwas zu sagen. Aber ihr wortreiches Kommunikationsversagen hat ein Meister des psychologischen Theaters notiert. Der Transfer klappt dennoch erstaunlich gut. Gerade weil sich Süßkow von allem trennt, was am Stück seiner Zeit verhaftetes Gesellschaftsporträt ist. Sie ändert radikal den Fokus und zoomt auf Mary, die nach der Heirat mit dem angehenden Schauspieler James eigene Ambitionen ad acta gelegt und seit dem Tod eines dritten Kindes depressiv und morphium­süchtig ist.

In Nürnberg setzt Marys Stimmung den Grundton; ja ihre sich mehr und mehr verzerrende Weltwahrnehmung ist überhaupt erst der Grund für das formale Experiment. Stimmung, Stimme, die Gestimmtheit des Instrumentes, emotionale und musikalische Misstöne: Es gibt eine Verwandtschaft. Und die wird in der engmaschig und sensibel mit den Aktionen der Schau­spie­le­r*in­nen abgestimmten Komposition von Philipp C. Mayer evident. Jede Figur hat ein musikalisches Alter Ego. Wenn Mary den Mund bewegt, tritt die Geige in Aktion, bei dem im Männlichkeitskorsett steckenden James ist es das Cello, für die Söhne sprechen Klarinette und Posaune. Die Instrumente können mit Engelszungen schmeichelnd direkt den Weg ins Herz finden, an den Nerven sägen, aber auch husten, kichern, schnarchen, die Flugbahn eines Bolzens beschreiben und in heller Verzweiflung schreien. Auch wer das Stück nicht kennt, versteht, was hier emotional abgeht. Für den Rest gibt es Mimik, Gestik und sprechende Ausstattungsdetails.

Gleich zu Anfang legt Mary einen kleinen Teddy auf einen Kunstrasen-Grabhügel; im Finale, in dem sich alle Instrumente zum dissonanten Crescendo vereinen, reißt einer der Söhne diesem Bären wieder und wieder den Kopf ab. Der Vater hält sich abwechselnd an einer Rose oder einem Rasenmäher fest, und schließlich erstarrt das Familienbild, weil aus Marys Perspektive nur noch der nächste Schuss zählt.

Teils ähnelt der Abend einem expressionistischen Stummfilm, aber Mirjam Stängls dreistöckige Drehbühnen-Etagère spielt selbstbewusst mit. Zu Beginn ist sie komplett unter dem riesigen Rock von Geigerin Ekaterina Zeynetdinova verborgen (Kostüme: Sabrina Bosshard) und Mary muss Mitspieler und Ausstattungsgegenstände ihres Lebens erst vom sahneweißen Stoff befreien. Ganz weit oben thront ein Tisch mit Stühlen, an dem die Familie nie zusammenkommt.

Und von da beginnt das Gerüst bedenklich zu wackeln, bis die Instabilität die untere Etage ergreift, von der aus man nur noch ins Nichts springen kann.