Mit aller Brutalität

Au­to­fah­re­r:in­nen stellen ein Viertel aller Verurteilten in Deutschland. Dennoch fehlt vielen von ihnen das Unrechtsbewusstsein, selbst nach fahrlässiger Tötung. Das Problem ist die gesellschaftliche Akzeptanz

Mahnendes Erinnern an einen getöteten Fußgänger in Berlin, 2020 Foto: Christian Mang/imago

Von Gereon Asmuth

Wie viele Menschen, glauben Sie, wurden in den ersten sechs Monaten die­ses Jahres durch Verkehrsunfälle in Deutschland verletzt?

a) 1.000

b) 10.000

c) 100.000

Tatsächlich gab es laut Statistischem Bundesamt 174.000 Unfallopfer, mehr als 230 pro Tag, rund 80 Prozent davon durch motorisierten Verkehr.

Wäre man der Friedrich Merz unter den Verkehrspolitikern, müsste man den nationalen Notstand ausrufen. Tatsächlich ist das aber der akzeptierte Normalzustand in all seiner Brutalität: der Preis, den die Gesellschaft stillschweigend zu zahlen bereit ist, damit wir alle Auto fahren können.

Zu den 174.000 Verletzten kommen übrigens noch 1.292 Tote. Und nein, es ist kein Trost, dass diese Zahl minimal niedriger ist als im Vorjahr. Oder würde jemand bei den Angehörigen und Freun­d:in­nen der Getöteten um Verständnis bitten? Weil es doch insgesamt etwas besser geworden ist?

Damit wären wir bei ­Natenom. Unter diesem Pseu­donym hatte sich der 43-jährige Andreas Mandalka auf Onlinekanälen einen Namen gemacht als der Fahrradaktivist, der eine Schwimmnudel auf seinen Gepäckträger klemmte, damit überholende Au­to­fah­rer:in­nen wenigstens auf die Idee kommen könnten, den eigentlich vorgeschriebenen Abstand von 1,5 Metern einzuhalten.

Am 30. Januar hatte er sich nach einer Einkaufstour über die Landstraße von Schellbronn nach Neuhausen in Baden-Württemberg auf Mastodon über die Fahrerin eines „Riesen­arschlochpanzers SUV Geländewagens“ aufgeregt, die ihn erst abgedrängt und beim anschließenden Wiedertreffen auf dem Supermarktparkplatz auf ihrem Recht zum Vorbeidrängeln bestanden habe. Eine Stunde später war Natenom tot. Auf dem Rückweg überfahren von einem damals 77-Jährigen. Der Fall löste deutschlandweit Entsetzen unter Ver­kehrs­ak­ti­vist:in­nen aus – und ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft.

Acht Monate später ist die zu einem klaren Ergebnis gekommen: Der Autofahrer habe den Radler „trotz guter Sichtverhältnisse aus Unachtsamkeit gänzlich übersehen“ und sei „ungebremst mit einer Geschwindigkeit zwischen 80 und 90 km/h auf den Fahrradfahrer aufgefahren“. Die Staatsanwaltschaft ist davon überzeugt, dass sich ­Natenom „vorschriftsmäßig verhalten hat und insbesondere durch seine Warnweste sowie die eingeschaltete Fahrradbeleuchtung ausreichend für andere Verkehrsteilnehmer sichtbar war“. Sie erließ daher einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung. Der Pkw-Fahrer soll eine Geldstrafe in Höhe von 150 Tagessätzen zahlen und zwei Monaten auf den Führerschein verzichten.

Das klingt nicht gerade nach hartem Durchgreifen. Eher wie ein Appell: Fahr lässig weiter; nicht so schlimm.

Doch was macht der Fahrer? Er legt Widerspruch ein – wie so viele in ähnlich gelagerten Fällen. Bleibt es dabei, kommt es zum Prozess. Aber man darf dem Sturkopf dankbar sein. Denn ein öffentliches Gerichtsverfahren bietet die Möglichkeit, über Verkehrsunfälle wie diesen zu reden.

Wie angemessen sind zwei Monate Führersch­ein­entzug nach der Tötung eines Menschen? Die Debatte, ob es nicht eines anderen Umgangs mit einem der größten Kriminalitäts­schwerpunkte bedarf, muss dringend geführt werden

Das ist unbedingt nötig. Weil nur so die Debatte geführt werden kann, wie angemessen zwei Monate Führerscheinentzug nach der Tötung eines Menschen sind. Und ob es nicht dringend eines anderen Umgangs mit einem der größten Kriminalitätsschwerpunkte der Republik bedarf: Jede vierte Verurteilung in Deutschland erfolgt wegen einer Straftat im Straßenverkehr. Und dabei geht es nicht mal um die nur als Ordnungswidrigkeiten eingestuften Taten wie zu hohe Geschwindigkeit oder zu geringer Abstand. Es geht um weitaus schwerwiegendere Vergehen und Verbrechen. In einer utopischen Welt ohne motorisierten Individualverkehr würden nicht nur die Umwelt und die Kliniken, sondern auch die Justiz radikal entlastet.

Dabei sind Au­tofahrer:innen keinesfalls schlechtere Menschen als etwa Fahr­rad­fah­rer:in­nen. Im Gegenteil, man darf die These in den Raum stellen, dass sie sich sogar häufiger als Rad­ler:in­nen an die – meist eigens für ihr flottes Fortkommen aufgestellten – Regeln halten. Aber sie nutzen nun mal das weitaus gefährlichere Instrument.

Wer sich – mal als Beispiel – vier Wochen nach eine Gehirn-OP auf ein Rad setzt und in einer Stresssituation einen epileptischen Anfall bekommt, nimmt meist selbst den größten Schaden. Wer in der gleichen Situation aber am Steuer eines hoch motorisierten Pkw sitzt, rast vier Menschen tot. So geschehen vor fünf Jahren in Berlin.

In der aktuell erregt geführten Debatte über die gesellschaftliche Bedrohung durch Besteck redet niemand über Löffel. Es geht nur um die Messer. Da aber ist man quer durch die Parteien mit Verboten schnell bei der Hand. Kann sich jemand eine ähnliche Diskussion über die weitaus größere Gefahr auf Deutschlands Straßen vorstellen, über die Straftäter am Steuer? Sie scheint undenkbar. Und genau das ist das Problem.