Wölkchen, die Impulse setzen

Italien ist 2024 Gastland der Frankfurter Buchmesse. Dort haben Comics Tradition. Überblick zu Graphic-Novel-Novitäten

Illustration aus „Die Krake im Nacken“ von Zerocalcare Foto: Avant Verlag

Von Ralph Trommer

Das surreal anmutende, verrätselte Bild mit seinen strahlenden Farben ziert das Plakat des diesjährigen Gastlandes der Frankfurter Buchmesse, Italien, und trägt das Motto „Verwurzelt in der Zukunft“. Gestaltet wurde es in Pastellkreidetechnik von Lorenzo Mattotti, der seit den 1980er Jahren einer der führenden Illustratoren und Comic­zeichner im Bel Paese ist.

Comics, die in Italien „Fumetti“ heißen – übersetzt bedeutet das: „Wölkchen“, da die weißen Sprechblasen optisch an solche erinnern –, sind dieses Jahr stark vertreten: Unter den Novitäten finden sich aktuelle Graphic Novels, experimentelle Formate und wiederentdeckte Klassiker. Obwohl im Italien der Nachkriegszeit eigene triviale Formate wie die zahlreichen Heft- und Taschenbuchserien („Tex“, „Dylan Dog“) sowie italienische Disneycomics (die hierzulande im „Lustigen Taschenbuch“ veröffentlicht werden) den Markt dominierten, gibt es auch eine lange Tradition der künstlerisch hochwertigen Fumetti, die innovative grafische und narrative Impulse setzten.

Am Anfang dieser Entwicklung steht Hugo Pratt (1927–1995), der schon 1945 mit anderen Künstlern zusammen die Serie „Asso di Picche“ entwickelte – „Pik-Ass“ war der erste maskierte (Super-)Held made in Italy. Doch Pratt ist heute vor allem wegen der epischen Abenteuer um den Seemann „Corto Maltese“ bekannt, die ab den späten 1960ern das Graphic-Novel-Format vorwegnahmen.

Im kürzlich bei Schreiber und Leser (Hamburg) erschienenen Band „Sein letzter Flug“ sind fünf Comicerzählungen aus seiner letzten Schaffensperiode in den 90er Jahren versammelt. In der Titelstory erzählt Pratt vom mysteriösen Verschwinden des französischen Schriftstellers und leidenschaftlichen Fliegers Antoine de Saint-Exupéry 1944 in einer französischen Aufklärungsmaschine. Geschickt webt er dabei Handlungselemente aus Saint-Exupérys erstem literarischen Erfolg „Nachtflug“ von 1930 mit ein, der vom letzten Flug eines Luftfrachtpiloten in Argentinien handelte.

Leichtfüßig und zeichnerisch schnörkellos wechselt Pratt dabei zwischen den Zeiten und Orten sowie zwischen realen und traumhaften Momenten. Dabei begegnet „Saint-Ex“ unter anderem seiner berühmtesten Figur, dem kleinen Prinzen, sowie Menschen aus der Vergangenheit. Auch die anderen „Comic-Novellen“ des Bandes spielen vor dem Hintergrund der beiden Weltkriege. Wie in „Corto Maltese“ erzählen Pratts letzte Geschichten vom Abenteuer, zeichnen sich aber auch durch eine realistische, schonungslose Darstellung des Krieges und sarkastische Dialoge aus. Den Realismus bricht Pratt kunstvoll immer wieder durch phantastische Elemente und philosophische, selbstreflexive Gedanken seiner Protagonisten auf.

Der passionierte Comicleser Umberto Eco schätzte Pratt sehr und schrieb das Vorwort zur Titelgeschichte. Auch die erotischen Comics von Pratts Zeitgenossen Guido Crepax (1933–2003) erfahren ein Revival. In seiner Reihe „Splitternackt“ veröffentlicht der Bielefelder Splitter Verlag eine Reihe seiner besten Alben aus den 70er und 80er Jahren, die zum Teil Klassiker der Schauerliteratur („Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ u. a.) wie auch der erotischen Literatur („Emmanuelle“) adaptieren. Weniger die Handlung der bekannten Werke als die innovative, filmische Gestaltung seiner Seitenlayouts sind heute noch aufregend. In den Episoden um die selbstbewusste Fotografin „Valentina“ oder die rätselhafte „Bianca“ (erschienen im Berliner Avant Verlag) wird das freizügige Lebensgefühl der späten 60er Jahre spürbar. Crepax’Strich zitiert Pop-Art und Jugendstil, er organisiert seine Panels virtuos wie der sowjetische Regisseur Eisenstein die Montage seine Filme.

Hugo Pratt

„Sein letzter Flug – und andere Geschichten“. Aus dem Italienischen von Resel Rebiersch. Schreiber & Leser, Hamburg 2024, 320 Seiten, 49,80 Euro

Guido Crepax

„Bianca“. Aus dem Italienischen von Salvador Denario, Avant Verlag, Berlin 2024, 224 Seiten, 29 Euro

Guido Crepax

„Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Der Prozess. Die Drehung der Schraube. Frankenstein“. Aus dem Italienischen von Resel Rebiersch. Splitter Verlag, Bielefeld 2024, 280 Seiten, 55 Euro

Davide Toffolo

„Interview mit Pasolini“. Aus dem Italienischen von Fabien Vitali. Galerie der abseitigen Künste, Hamburg 2024, 160 Seiten, 24 Euro

Michele Serra

„Osso. Geschichte einer Freundschaft“. Mit Zeichnungen von Alessandro Sanna. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Diogenes, Zürich 2024, 136 Seiten, 21,99 Euro

Gipi

„Geschichten aus der Provinz“. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano & Giovanni Peduto. Avant Verlag, Berlin 2024, 208 Seiten, 35 Euro

Alfred

„Maltempo“. Aus dem Französischen von Silv Bannenberg. Reprodukt ­Verlag, Berlin 2024. 184 Seiten, 24 Euro

Zerocalcare

„Die Krake im Nacken“. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Avant Verlag, Berlin 2024, 192 Seiten, 25 Euro

Der Zeichner Davide Toffolo (Jahrgang 1965) stellt wiederum einen legendären italienischen Künstler ins Zentrum seiner Graphic Novel „Interview mit Pasolini“, die bereits vor 20 Jahren in Italien erschienen ist und nun erstmals auf Deutsch vorliegt. In klaren Bleistiftzeichnungen beschreibt der Zeichner, wie ein junger Journalist in der Gegenwart einen Mann namens Pier Paolo Pasolini trifft, der auch aussieht wie der berühmte Filmregisseur, der 1975 im Alter von 53 Jahren ermordet wurde. Da die Person auch spricht wie dieser und dessen Philosophie wortgetreu wiedergibt, taucht der Erzähler in die Welt Pasolinis ein.

Dem Zeichner gelingt so eine inspirierte Hommage an den noch heute in Italien verehrten Kultregisseur und politisch engagierten Dichter. Ein interessantes Detail sind fünf farbige Seiten, die ein comicähnliches Storyboard Pasolinis für einen Kurzfilm zeigen. Davide Toffolo hat dafür dessen karikaturhafte Zeichnungen behutsam neu gezeichnet, um sie in seine Geschichte einzupassen.

Eine illustrierte Erzählung für Kinder und Erwachsene ist „Osso“. Der 1975 geborene Illustrator Alessandro Sanna hat einen unverwechselbaren Aquarellstil gefunden und zuvor auch Graphic Novels ohne Worte gemacht wie sein Meisterwerk „Der Fluss“ (erschienen 2014 im Peter Hammer Verlag). „Osso“, geschrieben von Michele Serra, ist die herzerwärmende und tiefgründige Studie eines alten Mannes, der nach langer Krankheit einem herrenlosen Hund begegnet. Er übernimmt Verantwortung für das abgemagerte Tier und denkt über Freundschaft, Alter, Einsamkeit, Träume nach.

Die Bandbreite der Fumetti ist groß. Auf hohem Niveau erzählen sie intensive Geschichten

Sannas zarte, luftige Aquarellbilder treffen die besinnliche Stimmung des Textes sehr gut und runden ihn perfekt ab.

Gipi (Gian Alfonso Pacinotti, Jahrgang 1963) erzählt in seinen Graphic Novels gerne vom Erwachsenwerden. Im Band „Geschichten aus der Provinz“ werden einige seiner besten Geschichten neu aufgelegt und durch bisher unveröffentlichte ergänzt. „Die Unschuldigen“ handeln etwa von Jugendlichen, die in die Kriminalität abdriften. Gipis leicht zittriger Strich unterstreicht die labile Verfassung der italienischen Jugend, in seinen Dialogen trifft er deren Jargon genau.

Lionel Papagelli alias Alfred (geboren 1976), ein Franzose italienischer Abstammung, stellt in seiner neuen Graphic Novel „Maltempo“ ebenfalls eine Gruppe von Jugendlichen ins Zentrum, die der Trostlosigkeit ihrer ärmlichen süditalienischen Heimat entfliehen wollen. Der 15-jährige Mimmo ist leidenschaftlicher Rockgitarrist und sieht die große Chance für sich und seine noch namenlose Band gekommen, als eine bekannte TV-Musikshow in ihrem Dorf ein Casting veranstaltet. Nun heißt es üben! Alfred schließt – nach „Come Prima“ und „Senso“ – mit dieser berührenden Coming-of-Age-Story in den späten Achtzigern seine „Italien-Trilogie“ ab, kreiert einen sehr stimmungsvollen Abgesang auf die Provinz in Süditalien. Dabei schwelgt er mit seinen pittoresk-sonnigen Landschaftsimpressionen gerne im vermeintlichen Klischee des Dolce Vita, zeigt aber schon auf der nächsten Seite die Abgründe hinter der Schönheit auf.

Auch Zerocalcare erzählt in seiner neuesten Graphic Novel „Die Krake im Nacken“ einfühlsam von eigenen Kindheitserlebnissen, vom Schulalltag und vom Erwachsenwerden in drei Lebensabschnitten. Die Krake des Titels soll die Gewissensbisse symbolisieren, die der Protagonist Zero nach einem Erlebnis in seiner Jugend empfindet und die ihn lange Zeit belasten. Der 1983 geborene Zeichner und Blogger, bürgerlich Michele Rech, wurde um 2011 zum Shootingstar der Fumetto-Szene. Seine autobiografischen Geschichten erreichen in Italien ein Millionenpublikum, inzwischen gibt es Kinofilme und eine Netflixserie. Zuletzt hat er sich auch als BDS-Aktivist betätigt und das Comicfestival von Lucca boykottiert. Seine simple Zeichentechnik kann nicht mit der Kunst eines Mattotti oder eines Sanna mithalten, doch passt sein cartoonesker Stil zur flapsigen Erzählweise. Zerocalcare trifft den Geschmack einer jungen Generation.

Die Bandbreite der Fumetti ist groß. Auf grafisch wie erzählerisch hohem Niveau erzählen sie intensive Geschichten von gestern und heute, entführen in Kriegsgebiete, nehmen die eigene Jugend ins Visier oder entführen in Traumzustände.