Dunkle Welten

Literaturnobelpreis: Was macht Han Kangs Romane unheimlich?

Man erfährt in den Büchern der diesjährigen Literaturnobelpreisträgerin viel über das kleine, aber bevölkerungsreiche Land zwischen Gelbem und Japanischem Meer. Han Kang gewährt Einblicke in den Alltag Südkoreas, von dem zumeist das Bild von K-Pop und des unheimlichen Nachbarn im Norden dominiert. Dass die südkoreanische Gesellschaft, obwohl westlich und modern eingestellt, in Bezug auf Geschlechterfragen immer noch sehr ungleich ist, ist nicht zuletzt durch Han Kangs Romane auch hierzulande bekannt geworden.

Seit ihrem internationalen Überraschungserfolg „Die Vegetarierin“, der 2016 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet wurde, ist das Interesse an koreanischen Schriftstellerinnen kontinuierlich gewachsen. Cho Nam-Joos Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ über eine mehr als durchschnittliche Hausfrau wurde etwa 2021 auch in Deutschland zum Bestseller. Genau um dieses Durchschnittliche, das teuflische Mittelmaß, geht es auch Han Kang immer wieder. Es sind dabei dunkle Welten, die diese Autorin aufschließt und die sich von unserer vielleicht nur in der Temperatur unterscheiden: Ihren Figuren haftet meist etwas unnatürlich Kühles an. Wie ein verschwundener Bildhauer etwa in „Deine kalten Hände“ in seinem Tagebuch seine vielfachen Versuche festhält, den perfekten Gipsabdruck eines Körpers zu schaffen, in den er hineinkriechen kann, ist durchaus unheimlich. Dass er sein perfektes Modell schließlich in einer übergewichtigen, missbrauchten Studentin findet, passt zum Body-Horror-Konzept der Autorin. Eine normierte Gesellschaft verlangt zwingend nach normalen Körpern.

Gewalt ist ein zentrales Thema bei Han Kang, psychische, durch das Umfeld ausgeübte, aber auch ganz konkrete: In „Menschenwerk“ spürt sie dem Volksaufstand von 1980 gegen das damalige Militärregime in Gwangju nach, der brutal niedergeschlagen wurde. Diesem Massaker war Han Kang auch persönlich nahe, ist die Autorin doch in der Stadt im Süden des Landes geboren. Trotz all dem Dunklen schimmert jedoch in ihren Romanen die Menschlichkeit immer wieder durch. So ist es etwa die betrogene Schwester der „Vegetarierin“, die diese vor dem Verhungern rettet. Han Kang erzählte zudem selbst mehrfach in Interviews, wie zwar die Fotos des Massakers von Gwangju, die sie als Kind zu Gesicht bekam, sie nachhaltig verstörten, sie jedoch das Bild einer meterlangen Schlange an Menschen, die in Folge zu Blutspenden antraten, wieder Hoffnung schöpfen ließ.

In ihrem letzten auf Deutsch erschienen Roman „Griechischstunden“ hat ihre Protagonistin ihre Stimme verloren. Wie gut, dass ihr eine wortgewandte Autorin zur Seite steht, die für sie spricht. Julia Hubernagel