Nachdenken über das Gewicht der Welt

In ihrem aktuellen Roman, „Samota“, schlägt die belarussische, nach Deutschland geflohene Schriftstellerin Volha Hapeyeva die Entwicklung eines Empathieserums vor, um Konflikten und Kriegen vorzubeugen

Von Jens Uthoff

Dieser Roman beginnt mit einer existenziellen Krise. Die Protagonistin Maja, eine Vulkanologin, ist im Zuge eines wissenschaftlichen Kongresses in einem anonymen Hotelzimmer gestrandet, das „in solchem Maße standardisiert“ war, „dass man sich in jedem beliebigen Land der Welt hätte wähnen können“. Sie fühlt sich dort orientierungs- und heimatlos, einsam. Deshalb auch der Titel des Romans, „Samota“: Das Wort bedeutet „Einsamkeit“ auf Belarussisch, der Muttersprache der Autorin Volha Hapeyeva. Doch das zentrale Thema soll in der Folge gar nicht die Einsamkeit sein, vielmehr beginnt von hier aus ein Nachdenken über die Welt und das Gewicht der Welt, über Empathiefähigkeit und menschliche Sensibilität, das Verhältnis von Mensch und Tier, Anthropozentrismus, zivilisatorische Zwänge.

Maja freundet sich mit der weitaus extrovertierteren und anpackenderen Tiertherapeutin Helga-Maria an, die Dialoge zwischen den beiden handeln oft davon, was Menschen Tieren antun, was Menschen einander antun. In einer zweiten Zeit­ebene taucht eine anachronistische Figur namens Sebastian auf. Er schreibt Liebesbriefe an Helga-Maria, scheint dem Fin de Siècle entsprungen zu sein und tritt darüber hinaus in philosophischen Gesprächen mit seinen männlichen Freunden in Erscheinung.

Es kann einen schon überraschen, mit welchen Themen sich Volha Hapeyeva in diesem Roman befasst. Die Schriftstellerin und Linguistin gehört in Belarus zu den bekannteren Intellektuellen, sie floh nach der gescheiterten Revolution in ihrem Heimatland 2020 nach Deutschland. Hapeyeva hat sich zuletzt mit den politischen Zuständen in Belarus befasst, sie schrieb den Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“, für den sie 2022 den Wortmeldungen-Preis für kritische Kurztexte erhielt. In „Camel Travel“ (2021) erzählt sie eine feministische Coming-of-Age-Geschichte in der BSSR/Belarus zur Perestroika-Zeit und in den frühen 1990ern. Auf Belarussisch erschien ihr Werk „Samota. Die Einsamkeit im Zimmer gegenüber“ bereits 2021. Der Roman wurde dort im unabhängigen Verlag Halijafy veröffentlicht, der 2022 von Diktator Lukaschenko zwangsliquidiert wurde.

„Samota“ scheint nun wenige direkte politische Bezüge aufzuweisen. Die Einsamkeit der Protagonistin kann man in Beziehung setzen zu der Exilsituation der Autorin (die auch noch mit den Zeiten der Isolation während der Coronapandemie zusammenkam), muss man aber nicht. Protagonistin Maja begleitet man bei einer Art innerer Erkundung, einer Suche nach dem Ausweg aus der Einsamkeit: „Wieder diese endlosen inneren Dialoge, ich frage mich, was wohl in der Welt geschieht, während ich mit ihnen beschäftigt bin?“, fragt sie sich einmal. Man folgt den Gedankenströmen Majas dabei gern, weil Hapeyeva sprachlich so präzise ist und seltsam schräge Metaphern kreiert, die hängenbleiben: „Es gibt Menschen, die verwahren ihre Kränkungen in speziellen Schränkchen unter der fünften und sechsten Rippe. Sie brauchen Garantien, Belege, Beweise, die ihnen die Liebe der anderen bestätigen. Aber kein Beleg der Welt kann die Angewohnheit betäuben, alles zu kontrollieren und niemandem zu vertrauen.“

Hapeyeva ist sprachlich präzise und kreiert seltsam schräge Metaphern, die hängenbleiben

Über die Figur Helga-Maria wird dagegen das Mensch-Tier-Verhältnis verhandelt. Sie hält im Lauf der Handlung einen Vortrag über den menschlichen Umgang mit Tieren, geht dabei zurück auf Philosophisches von Montaigne, Descartes und Nicolas Malebranche. Helga-Maria vergleicht schließlich Speziesismus mit Rassismus, Sexismus und Homophobie und schlägt die „Entwicklung eines Empathieserums“ vor, um Konflikten und Kriegen vorzubeugen. Von dem von ihr geforderten Einfühlungsvermögen, das stellt sich heraus, hat ihre Freundin Maja zu viel abbekommen: Sie ist hypersensibel, hat ein hohes Schmerzempfinden, empfindet Mitleid mit allem Lebenden und flüchtet sich vielleicht sogar deshalb in das Greif- und Messbare der Naturwissenschaften.

Insgesamt kreist die Handlung um zu viele verschiedene Themen, die nur angerissen und nicht immer zufriedenstellend behandelt werden; ein klarerer Fokus hätte dem Roman gut getan. Doch Hapeyeva beschreibt dicht, tief, poetisch, in beeindruckender Sprache – und thematisiert dabei zeitlose, große Menschheitsthemen. Man kann es demnach auch so sehen: Als anthropologischer Romanessay ist „Samota“ brillant.

Volha Hapeyeva: „Samota“. Aus dem Belarussischen von Tina Wünschmann und Matthias Göritz, Droschl, Graz 2024, 192 Seiten, 25 Euro