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Eine Lehrerin verschwindet

Die italienische Schriftstellerin Magdalena Vaglio Tanet erzählt vom erdrückenden Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart

Der Wald ist ein Ort, an dem man sich, getrieben von der Schuld der anderen, höchstens verstecken kann Foto: Gabriela Torres Rui/plainpicture

Von Yannic Walter

Es ist die unbefriedigende Leere zwischen den Zeilen einer Nachrichtenmeldung, die Maddalena Vaglio Tanets Debütroman „In den Wald“ vielleicht zur Genese gebracht hat. Die Schlagzeile ist: In Biella, einer norditalienischen Kleinstadt zu Füßen der Alpen, tötet sich eine 11-jährige Schülerin selbst, woraufhin ihre Lehrerin, von Schuldkomplexen getrieben, spurlos im Wald verschwindet, statt morgens zum Unterricht in der Schule zu erscheinen.

Die echte Lehrerin ist eine Verwandte Tanets, der Fall liegt Jahrzehnte zurück, gehört längst zur Familienfolklore – doch lässt er die Autorin nicht los. Sie beginnt eine umfassende Recherche, wie um sich die Unfassbarkeit einer derartigen Meldung selbst begreifbar zu machen und das dichte Netz an Geschichten aufzudecken, das jeder Schlagzeile in Wirklichkeit zugrunde liegt. Tanet trägt Zeitungsartikel zusammen, spricht mit Zeitzeugen, rekonstruiert das Biella der späten 1960er und 70er Jahre, dasselbe Biella, aus dem auch sie selbst stammt. Nur mit der verwandten Lehrerin kann sie nicht mehr sprechen, denn die ist inzwischen verstorben.

Langsam kristallisiert sich eine Erzählung heraus, die sich selbst bisweilen wie eine Recherche liest, ein langsames Aufdecken und Schärferzeichnen der Lehrerin in ihrem selbstgewählten Exil, der Angehörigen, die nach ihr suchen und sich bald auf das Schlimmste vorbereiten, sowie ihrer Schüler:innen, die sich insgeheim über den ganzen Trubel und Schulausfall freuen.

Es ist ein Psychogramm eines Ortes, der die Traumata seiner Geschichte nicht überwinden kann. Denn die vermeintliche Gemeinschaft Biellas ist an vielen Stellen nur behauptet, ausgehöhlt durch unaufgearbeitete Kriegsschicksale: Biella und die Täler der Prealpi Biellesi waren eine Hochburg antifaschistischer Partisanengruppen und Schauplatz schwerer Kämpfe während des Zweiten Weltkriegs.

Es ist ein Ort, der um eine kollektive Erzählung der Vergangenheit ringt, der Kriegsjahre und aller damit einhergehender Traumata. An jeder Fassade klebt die Last der Schuld: Schuld, die Gräuel des Kriegs überlebt zu haben, Schuld, dem Faschismus entweder zu wenig oder überhaupt nicht entgegengetreten zu sein, die Hilflosigkeit der Hinterbliebenen, die erlebte Ohnmacht, ein Spielball weltumspannender Kräfte zu sein, die besonders konzentriert wirken an einem kleinen Ort wie Biella.

Tanets vermeintlich faktische Arbeitsweise erinnert an den New Journalism, an Truman Capotes große „Non-Fiction Novel“ „In Cold Blood“: Auch Tanet verzichtet auf eine eingreifende Erzählinstanz und erzählt die Geschichte nach den Regeln eines Romans. Doch wo Capote mit einiger Überheblichkeit behauptete, jedes seiner Worte sei wahr und würde nichts als den tatsächlichen Fakten entsprechen, transzendiert Tanet dieses orthodoxe Verständnis von Wirklichkeit.

„In den Wald“ ist keine versuchte Rekonstruktion eines Kriminalfalls, sondern das literarische Erweitern einer Wirklichkeit, die sich in Form eines bloßen Protokolls nicht erfassen ließe. Tanet forscht nicht dem genauen Ablauf der Vorgänge nach, sondern hebt die Figuren aus ihrem bloßen Zeugentum heraus. Es geht um Mutterschaft, es geht um den erdrückenden Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart, es geht um die Abwesenheit von Vätern, das Fehlen von Vorbildern. Es geht um das Auserzählen der Schicksale hinter den Schlagzeilen einer Berichterstattung, vorbei an reißerischen Details, um die Textur hinter dem Offensichtlichen.

Die multifokale Erzählweise lässt dabei nicht immer die notwendige Erzählzeit zu, jede Figur gleichermaßen verständlich zu machen. Hier und da wünscht man sich eine Rückblende und einen biografischen Exkurs weniger, denn die vermeintliche Hauptgeschichte, das Schicksal der Lehrerin im Wald, gerät mitunter arg ins Hintertreffen. Doch irgendwann wird klar: „In den Wald“ ist zu gleichen Teilen die Geschichte der verschwunden Lehrerin wie derer, die nach ihr suchen.

Man verzeiht Tanet das ausschweifende Dramatis Personae. Auch wenn es anders als bei Capote durchaus zu dramaturgischen Längen kommt, bleibt der dahinterliegende Anspruch an erzählerischer Wahrhaftigkeit stets erfüllt. Wo Tanets Text ein Produkt ihrer Fantasie wird, erhebt sie sich nie über die Figuren, sondern ehrt immer ihren Anspruch, die Geschichte (und ultimativ ihre eigene) über alle Hindernisse hinweg begreifbar zu machen. Man merkt ihr den inneren Kampf mit dem Stoff, ihrer Recherche, ihrer biografischen Verwicklung, sowie dem universellen Anspruch der literarischen Form und ihrer Unzufriedenheit über das Reduktive des Journalistischen förmlich an. Es ist auch der klaren und poetischen Übersetzung Annette Kopetzkis zu verdanken, dass man nicht selbst im Wald aus Rückblenden und Traumsequenzen verlorengeht.

Magdalena Vaglio Tanet: „In den Wald“. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzk. Suhrkamp, Berlin 2024, 304 Seiten, 24 Euro

Nicht nur die Erzählzeit, die Jahre nach dem Ende des miracolo economico,erinnert dabei an Elena Ferrantes Neapel-Romane. Auch „In den Wald“ ist eine Geschichte über Frauen, die sich den Zwängen der patriarchalen Strukturen Nachkriegsitaliens und seiner Klassengesellschaft zu entziehen versuchen. Die Männer Biellas stellen für tatsächlichen Fortschritt das größte Hindernis dar: Sie sind Taugenichtse, nutzlose Spielsüchtige oder jähzornige Wüteriche, die von ihren Frauen längst nicht mehr ernst genommen werden und nur aufgrund des weitreichenden Katholizismus (noch) keine Scheidung befürchten müssen.

Die Frauen arrangieren sich und versuchen ihren Männern zum Trotz das Beste aus ihrer Lage zu machen. So besitzt die Nonne Annangela als eine der wenigen die Unabhängigkeit eines eigenen Autos und wird dafür schwer bewundert. An anderer Stelle wird von Anbahnungen einer Affäre erzählt, die einer der Protagonistinnen plötzlich wie ein verbotenes Fenster zur Flucht aus einem unglücklichen Leben erscheint.

„In den Wald“ ist auch ein Roman über Literatur als Mittel der Traumabewältigung, und Tanet macht den Akt des Erzählens auf eine Weise selbst zum Inhalt. Es ist bestimmt kein Zufall, dass es Gianni, ein Schriftsteller, ist, der als eine der wenigen männlichen Figuren eine gewisse Verlässlichkeit verkörpert und unter den Bewohnern Biellas gleichsam „eine Ausnahme ist, da er der Erzählung [seines] Leidens nicht ausweicht“.

Die Männer sind Taugenichtse, von ihren Frauen nicht mehr ernst genommen

Man fühlt sich an den magischen Realismus jüdisch-amerikanischer Au­to­r:in­nen wie Jonathan Safran Foer oder Nicole Krauss erinnert, die in ihren Werken ebenfalls um eine Schreibweise ringen, die den Erlebnissen ihrer Vorfahren in Europa ansatzweise gerecht wird und in denen auch immer die Erzählbarkeit des Unfassbaren selbst verhandelt wird – insbesondere als Teil der nachfolgenden Generation.

Doch ist der Wald in Tanets Roman nicht magisch-verwunschen oder Ausdruck eines südlichen Arkadiens im Sinne Goethes. Es ist ein nasser, kalter und knarzender Wald, bedrohlich, für die Lehrerin aber auf angenehme Weise existenziell, ein erträumter Urzustand, an dem man sich doch vor der Vergangenheit allerhöchstens verstecken kann.

Tanets Wald ist ein Ort der Buße, ein Ort der Bestrafung, an den sich die Lehrerin und später die nach ihr Suchenden zurückziehen, um eine Schuld zu sühnen, die weder die Lehrerin noch die Nachkriegsgeneration direkt auf sich geladen haben, die aber dennoch jede Faser ihres Wesens durchzieht.

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