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Rasender Stillstand

Andreas Reckwitz zieht in seinem Buch „Verlust“ eine Schadensbilanz. Die Motoren der westlichen Gesellschaften laufen zwar auf Hochtouren. Aber die Zukunft ist nicht mehr, was sie mal war

Das vielleicht eindrücklichste Sinnbild für Verlust: Eisberge, die schmelzen Foto: Fo­to:­ Jo­dy Martin/reuters

Von Stefan Reinecke

Wenn Sie gern Texte wie diesen in der gedruckten taz lesen, steht Ihnen ein Verlust ins Haus. Die taz wird ab Herbst 2025 nur noch als Wochenzeitung erscheinen, nicht mehr täglich. Die taz ist erst der Anfang. Die meisten gedruckten Tageszeitungen werden untergehen. Ist das ein Verlust?

In der klassischen, fortschrittsfrohen Moderne würde dieses Ende eher nicht als Minus verbucht, sondern als Übergang zu einer besseren, schnelleren, billigeren Art, Informationen unter die Leute zu bringen. Printzeitungen rechnen sich nicht mehr. Ihr Aus erscheint in der Erzählung ökonomischer Ratio und technischer Effektivierung zwingend. Die Gutenberg-Galaxis ist Vergangenheit, die wir getrost abhaken können. Das Digitale ist das Neue, das ein besseres Morgen verheißt. Kein Grund zur Trauer. Was untergeht, ist in einer besseren Zukunft aufgehoben.

Wenn wir Andreas Reckwitz folgen, befinden wir uns seit gut 40 Jahren in der Spätmoderne. Die wird noch immer von den Dynamiken der Moderne angetrieben. Aber die Kalkulationen mit Vergangenheit und Zukunft fallen anders aus: zwiespältiger, skeptischer, düsterer.

Vor allem Boomer, die mit Zeitungen groß geworden sind, werden die haptische Erfahrung vermissen, beim Frühstück die taz in der Hand zu haben. Das ist eine Marginalie, die aber auf ein größeres Bild verweist: Ist es das wert? Ist das Neue besser? Werden in dem entgrenzten, beschleunigten, digitalen Social-Media-Kosmos Informationen so rational verarbeitet wie in der Welt der Papierzeitungen und Brötchenkrümel?

Das Ende der Tageszeitungen ist ein mikroskopisch kleiner Teil der orkanartigen digitalen Umwälzung, die die westlichen Gesellschaften durchschüttelt. Industrien gehen unter, digitale Tycoone sind mächtiger, als es Industriebarone je waren. Die Klimakatastrophe, Ergebnis entfesselten Fortschrittsglaubens, verschlingt Inseln. Der Fortschritt ist auch nicht mehr, was er mal war. Verluste haben, so Reckwitz’ zentrale These, ein gefühltes Gewicht bekommen, das von keiner lichten Zukunftsidee mehr schwerelos gemacht wird.

„Verlust“ ist der nicht unbescheidene Versuch, die westlichen Gesellschaften als Projekt zu beschreiben, das vor allem damit befasst ist, die Schäden wegzuerklären, die sie in ihrem Zukunftsfuror selbst anrichteten. Westliche Gesellschaften sind erfindungsreich, um den Preis des Fortschritts zu verkleinern, zu verdrängen, zu banalisieren. Der Unfall gilt als Ausnahme. Wer keinen Erfolg hat, ist selbst schuld. Weil Tod eine Kränkung für jede Fortschrittseuphorie ist, wurde er in der Moderne weitgehend aus dem sozialen Leben verbannt.

Reckwitz katalogisiert und summiert in der ersten Hälfte der Studie die Narrative, die minimieren, was den Fortschritt stört. Bearbeitet werden vor allem Begriffe, Empirie spielt eine Nebenrolle. Die ersten 200 Seiten lesen sich wie eine Schadensbilanz, die ein leicht nerdiger Begriffs-Buchhalter auflistet. Ideen sind seltsamerweise in Fußnoten versteckt. Man rechnet hier offenbar mit einer geduldigen, hochkonzentrierten Leserschaft.

Reckwitz gilt als präziser Beobachter, der mit dem Besteck soziologischer Begriffsanalyse der Gesellschaft den Puls fühlt. In „Gesellschaft der Singularitäten“ fusionierte er 2017 Individualisierungstheorien mit Analysen des Selbstverwirklichungskapitalismus zu einer neuen Erzählung. Im Kulturkapitalismus müssen alle besonders sein. Das ist ganz schön anstrengend, kann aber auch klappen.

Reckwitz hat ein feines Gespür für Zeitstimmungen. Angesichts von Corona und Kriegen, Klimawandel und Abstieg des Westens ist Verlust als Buzzword treffsicher gewählt. Diese Stimmungsbilder fügt Reckwitz wie Mosaiksteine in großformatige, sperrige Theorien ein. Anders als dunkle, postmoderne Zeitdiagnostiker wie Byung- Chul Han können wir uns Andreas Reckwitz als freundlichen Liberalen vorstellen, der in jedem Katastrophenszenario den brauchbaren, sozialverträglichen Ausgang sucht.

„Verlust“ ist keine radikale Kulturkritik. Das Interesse gilt vielmehr kühl der Frage, wie Gesellschaften Schäden bearbeiten oder verdrängen. Im zweiten, inspirierteren Teil werden diese Manöver mit intellektuellem Schwung seziert. Bereden und Verschweigen sind, so die hellsichtige Deutung, weniger Gegenteile als Aggregatszustände der Verlustbearbeitung. In der Spät­moderne (ein Begriff, der mit der Postmoderne nur entfernt verwandt, mit der zweiten, reflexiven Moderne von Ulrich Beck eng verbunden ist) gibt es fast eine Explosion von Verlustbearbeitungen. Der Bogen reicht nicht mehr nur vom Sozialstaat bis zur Haftpflichtversicherung, er umfasst Therapiekultur, postmoderne Architektur und postkoloniale Opferdiskurse. Überall sind Strategien zu erkennen, mit denen künftige Verluste kompensiert oder vergangene dem Vergessen entrissen werden sollen.

Andreas Reckwitz: „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 463 Seiten, 32 Euro

Reckwitz’ trickreiches Argument lautet: Sowohl die rüde Verdrängung als auch die neuen Empfindsamkeiten zeigen, wie drängend Verlusterfahrungen sind. Die gefühlten Verluste nehmen zu – das ist auch ein Effekt der Gesellschaft der Singularitäten. „Das Ideal des lebenslangen Wachstums der Persönlichkeit radikalisiert den Fortschrittsimperativ, indem er ihn sogar in die Psyche des Subjekts hineinverlagert: Die Biografie selbst soll damit dem Muster des „Immer-besser und des Immer-mehr folgen“. Wo alle Anspruch auf sozia­len Aufstieg, Wohlstand und private Erfüllung, kurzum Glück, haben, wächst das Unglück auch. Gerade in Gesellschaften, in denen kaum noch jemand an das bessere Morgen glaubt, bekommen die Enttäuschungswellen enorme Wucht.

Die aggressiven Retrofantasien der Rechtspopulisten passen fast fugenlos in diese Skizze. Trump & AfD antworten auf Verlustwahrnehmungen und verknüpfen Opferinszenierungen mit einer rückwärtsgewandten Utopie. Trump ist das Gesicht einer wütenden Gesellschaft, die für die Verluste, die zum Wesen der Moderne gehören, keine sinnvolle Erzählung mehr hat – und dieses Vakuum mit Hass auf Eliten und Migranten füllt.

Der Aufstieg der Rechtspopulisten ist in „Verlust“ aber keineswegs der Fluchtpunkt. Die Rechtspopulisten kommen nonchalant am Rande dieses Panoramabildes vor – neben der alternden Gesellschaft (schon wieder – Zukunftsverlust). Das passt zu Reckwitz’ diskursivem Stil, lieber das Strukturelle zu beleuchten, als rhetorische Knalleffekte zu zünden.

Der Fortschritt ist in zwei Teile zerfallen. Die Maschinen der Gesellschaft laufen zwar auf Hochtouren. Unternehmen investieren, weil sie mit Gewinnen in der Zukunft rechnen. Generelles Zukunftsmisstrauen würde zum sofortigen Kollaps der globalen Ökonomie führen. Auch Staaten und Wissenschaft planen unverdrossen. Doch der Zukunftshorizont ist verfinstert. Die Handys werden besser, schneller, billiger. Aber die Erzählung, in der dies bedeutsam war, ist zerbrochen. Diese widersprüchliche Lage beschreibt Reckwitz mit Paul Virilio als „rasenden Stillstand“.

Reckwitz gilt als präziser Beobachter, der der Gesellschaft den Puls fühlt

Reckwitz betont, dass diese Befunde für westliche, individualisierte Gesellschaften gelten, nicht global. Fair enough. Eine Antwort auf die Frage, ob man 2024 eine Theo­rie der Moderne schreiben kann – das will „Verlust“ sein –, ohne China und Indien im Augenwinkel wahrzunehmen, ist das nicht.

„Verlust“ ist ein kluger, anregender, weit ausgreifender, manchmal ziemlich steifer Versuch, unsere Gegenwart im Westen profund zu beschreiben. Erstaunlich unterbelichtet bleibt dabei der Abstieg des Westens, der nach Jahrhunderten vom imperialen Zentrum zu einem Player unter anderen wird.

Am Ende empfiehlt Reckwitz als Alternative zum Untergang oder stumpfem „Weiter so“ die „Reflexion der Verlusterfahrungen“ und eine Art „reparierte Moderne“. Doch wer da warum den Klempner spielen wird, bleibt diffus. In diese Passage schleicht sich nicht zufällig ein Ton des Appells und ein Gestus des Händeringens. Vielleicht reicht es, wenn Soziologen für die Diagnosen zuständig sind und nicht für Therapien.

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