Liebling der MassenUli Hannemann : Der letzte Tag, an dem Berliner lächeln
Marathon vorbei, alles vorbei. Und auch heuer war es vor einer Woche wieder dieser eine seltsame Tag des Jahres, an dem Berlin ein freundliches Gesicht zeigt. Wie fast immer Ende September bei schönem, klaren Wetter und angenehm moderaten Temperaturen. Fast 60.000 Läuferinnen und Läufer aus 161 Ländern, fröhliche Menschen aus der ganzen Welt.
Nur an diesem besonderen Tag wirken Stadt und Leute stets so fremdartig blankgeputzt und aufgeräumt. Die Massen lächeln vom Straßenrand aus wie besoffen den ebenfalls lächelnden Laufenden zu und feuern sie an.
Es ist, als wolle Berlin an diesem Tag doch einmal sagen, „seht, so könnte ich theoretisch auch sein“, ehe es von diesem einzigartigen Höhepunkt aus am nächsten Tag wieder für lange Zeit in den gewohnten Abgrund aus Kälte und schwärzester Nacht hineinkippt. Hinein in den Herbst, die Bitterkeit, die Wut, den Fatalismus, Berliner Schnauze mit Schmerz.
Am Tag danach sind sie dann alle wieder wirklich besoffen. Dafür lächelt keiner mehr, und wenn umgekehrt jemand angelächelt werden sollte, von einem leichtsinnigen Fremden, der sich nicht auskennt, fauchen sie zurück: „Was grinst du so dämlich?“ Es ist Winter in Berlin.
Erst im folgenden Mai geht es langsam wieder aufwärts, doch der heilige Ausreißer in einer schier endlosen Ansammlung relativ trüber Stunden bleibt der Tag des Marathonlaufs.
Im Grunde ist das eins zu eins wie die berühmte Geschichte von dem Löwen und dem Lämmchen, aus, was weiß ich, der Bibel oder so. Weil, der Löwe ist normalerweise immer komplett scheiße, jeden Tag, und brettert dem Lämmchen so – wämm! – in die Fresse, und am nächsten Tag gleich wieder: wämm! Und zwar volle Pulle.
Das Lämmchen hat sich dann schon irgendwann drauf eingestellt, Verbandskasten und Schmerztabletten immer parat, bisschen Sarkasmus auch antrainiert auf so ne resignierte Art – Anzeige hat eh keinen Zweck, das reicht den Bullen irgendwie nie, kein Wunder, die sind ja auch selbst alle Leoparden und Wölfe und so –, aber dann kommt der Marathon der Tiere und voll das schöne Wetter. Ende September, stabiles Hoch, achtzehn Grad Celsius. Und der Löwe ist auf einmal superfreundlich, lächelt das Lamm an, und tut so als wäre nie was gewesen. Er zeigt sich von der besten Seite.
Selbst läuft er nicht mit wegen Knie und Rücken und so. Aber er hat eine kleine Trommel, und jedes Mal, wenn ein Lamm mit Startnummer und Turnhose vorüberrennt, trommelt er und brüllt aufmunternd.
Das Lämmchen traut dem Braten nicht, natürlich, weil am nächsten Tag beginnt der Winter. Und dann kriegt es vom Löwen wieder in die Fresse, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, das weiß es schon: Wämm!
Nächstes Jahr findet der Marathonlauf übrigens eine Woche früher statt, wegen der Bundestagswahlen am darauffolgenden Wochenende. Die Diskrepanz wird umso größer sein, denn je nachdem, wie die Wahl ausgeht, ist der Marathonsonntag dann nicht – wie bisher immer – nur der letzte strahlende Festtag des jeweiligen Jahres, sondern der letzte gute Tag überhaupt.
Wenn der Lauf nicht sowieso gecancelt wird, wegen der bunten Farben, der guten Stimmung und der vielen Ausländer. Dann werden keine Leute mehr aus 161 Ländern kommen. Nur wenige werden am Straßenrand stehen, und dabei gegen die GEZ-Gebühren protestieren, obwohl die längst abgeschafft sind.
Das Fernsehen zeigt entsprechend keine Bilder. Niemand lächelt, wenn die paar Läufer aus Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland und Nordkorea mit verbissenen Gesichtern vorbeilaufen werden. Läuferinnen gibt es nicht, wegen der Gefahr plötzlicher Gebärmutterabsenkungen. Denn die können wir im Namen der Zukunft unseres Landes keinesfalls riskieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen