Peter Unfried
Die eine Frage
: Was ist Habeckismus?

Foto: Marco Limberg/X-Press

Wie konnte es dazu kommen, dass das „Wir schaffen das“-Prinzip für viele Leute offenbar zu einer unerträglichen Zumutung geworden ist? Darüber sprach ich in dieser Woche mit Jagoda Marinić, Schriftstellerin und Public Intellectual. Im Gespräch sagte sie sinngemäß, es sei auffällig, dass bei vielen Deutschen die Sätze grundsätzlich nach unten gehen, also im Negativen enden. Das trifft selbstverständlich speziell auf unsereins zu, die kritischen Milieus. Unsere beliebtesten Sätze werden mit einer Drohung eingeleitet und enden in einer Apokalypse. Wenn nicht sofort dies und das aufhört oder gemacht wird, dann … ist die Menschlichkeit am Ende, haben die Nazis gesiegt, ist die Klimakatastrophe nicht mehr aufzuhalten.

Da müssen wir raus. Das zentrale Versprechen der Moderne ist, dass wir etwas schaffen können. Um das einzulösen, müssen wir erst mal anfangen, unsere Sätze zu einem guten Ende zu bringen, sonst können wir auch in der Realität nichts Gutes anpeilen und schaffen.

Jetzt wird man verständlicherweise einwenden: Hä, wo alles immer schlimmer wird mit Erderhitzung, Fossilismus, Kriegen, Terror, Trump, AfD, BSW und so weiter?

Gerade deshalb. Der Dagegen-Impuls ist notwendig zum Aufrütteln, aber er reicht nicht. Es wird da regressiv, wo er nur dazu dient, durch einen klassischen Antagonismus oder eine anachronistische Denkfigur eine Welt von gestern zu suggerieren, in der man sich auskennt.

Was meine ich damit? Zum Beispiel sollen die Grünen gerade in eine nicht mehr existierende Bundesrepublik zurückgeschubst werden. Deshalb wird jetzt auch mit den alten Begrifflichkeiten hantiert, „Realo-Putsch“, „linker Flügel“, „Mitte“ als Schimpfwort. Es wird getan, als sei es moralische Verwerfung, Hybris oder einfach Irrsinn, den gemäßigt progressiven Teil der liberaldemokratischen Gesellschaft zu repräsentieren und seine Anschlussfähigkeit an den gemäßigt konservativen Teil herstellen zu wollen zum Zweck einer Mehrheitsallianz für Zukunftspolitik.

Letztlich steht dahinter die große Sehnsucht, zurück in den gemütlichen fossil-emanzipatorischen Sozialdemokratismus zu können, in dem alles klar schien und jeder seine Rolle hatte. Die Konservativen von Union und SPD hielten den Laden mit den politischen Mitteln und fossilen Energien des 20. Jahrhunderts am Laufen, die „Progressiven“ hatten die Kritik- und Sprechrolle: Zu wenig Gerechtigkeit, zu wenig Emanzipation.

Peter Unfried ist Chefreporter der taz.

Stimmt ja auch. Nur dass die veränderte physikalische Realität durch die Erderhitzung einen fundamentalen Change bedeutet, der nicht in das alte Lagerdenken einzupreisen ist und auch nicht auf eine Nazistory zu reduzieren. Eine gute neue Geschichte, die gerade erst entsteht, ist schwer zu erzählen, das merken auch wir Medien im Moment. Viele mediengesellschaftliche Erörterungen, Moral­anfälle, Personalisierungs-, Macht- und Heimatfilminszenierungen gehen nicht nur an der Realität der Geschehnisse bei den Grünen vorbei, sondern vor allem an den zentralen Fragen.

Ich hoffe, ich ersticke nicht mal an dem Satz, aber: In den letzten Jahren konnte man nicht mehr ignorieren, dass die Partei erwachsener wurde und bereit, sich unangenehmer staatspolitischer Verantwortung zu stellen (Ukraine, Bundeswehr). Radikal daherreden kann jeder, zynisch sein kann Söder, heulen und davon­rennen kann die FDP, aber radikal einen Mittelweg suchen und beschreiben, der die zweifelnden, nörgelnden, nostalgischen und die aufbruchbereiten Teile einer Gesellschaft in die gemeinsame Richtung einer ordentlichen Zukunft bewegt, das ist doch mal ein inter­essanter und lösungsorientierter Politikansatz.

Radikal daherreden kann jeder, zynisch sein kann Söder, heulen und davon­rennen kann die FDP

Manche nennen das ja neuerdings „­Habeckismus“.