Le Pen delegiert ihre Hetze

Aus Paris Rudolf Balmer

Von den auf einer Mauer in Serie aufgeklebten Plakaten lächelt eine junge Frau: „Philippine, 19 Jahre, getötet von einem wegen Vergewaltigung vorbestraften marokkanischen Migranten mit Ausreisebefehl“, steht darauf. Für die Rechtsextremisten, die diese Plakate derzeit verbreiten, lautet die Folgerung, ein illegal eingereister Nordafrikaner sei eine Gefahr für die Gesellschaft, und der Staat, der „nichts“ gegen die Präsenz der Sans-Papiers unternehme und gerichtlich verurteilte Ausländer nicht sofort aus dem Land weise, mache sich an Delikten und Verbrechen mitschuldig.

Ob sich in Frankreich Kriminalfälle mit Ausländern tatsächlich häufen, ist statistisch nicht belegt. Aber zweifellos wird jeder Fall, der sich dazu anbietet, etwa der Tod der Studentin Philippine, für die nationalistische Propaganda instrumentalisiert. Der neue, autoritäre Innenminister Bruno Retailleau steht unter Druck und reagiert, wie sich das die extreme Rechte erhofft. Die Regierung von Premierminister Michel Barnier hängt vom Wohlwollen der rechtsextremen Opposition ab, die diese Minderheitsregierung gewähren lassen will – unter der Bedingung, dass sie die bereits restriktive Asyl- und Ausländerpolitik noch verschärft. Wie oft schon wurde in den letzten 50 Jahren das Einwanderungsgesetz revidiert? 30-, 40- oder 50-mal?

Retailleau reagiert auf den Fall Philippine. Er will die administrative Abschiebehaft von bisher drei auf sieben Monate verlängern und zugleich die Berufungsmöglichkeit gegen die Ausführung der Ausreiseanordnung aufheben. Zudem sollen die betroffenen Migranten keine Rechts- und Sozialhilfe von NGOs mehr erhalten dürfen. Außerdem versucht sich der neue Innenminister als scharfer Gegner des „politischen Islam“ zu profilieren. Er hat die Rolle des Steigbügelhalters für Marine Le Pen, die im Sommer dank einer Abwehrfront der Linken und Macro­nisten vielleicht letztmals an der Machtergreifung bei Wahlen gehindert wurde. Die vom ständig wachsenden Medienimperium des ultrakonservativen Milliardärs Vincent Bolloré beeinflusste öffentliche Meinung kippt immer mehr nach rechts und akzeptiert die fremdenfeindliche und reaktionäre Ideologie der extremen Rechten. Marine Le Pen, die sich weiter um ihr Verharmlostwerden bemüht, kann es sich leisten, die ausländerfeindliche Hetze an andere zu delegieren. Sie hat gute Chancen, bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2027 – ihrem vierten Anlauf – mit Unterstützung einer Fraktion der Konservativen an die Macht zu kommen.

Frankreich ist ein Einwanderungsland, das viele Jahrzehnte lang die vor Elend, Krieg und Verfolgung Flüchtenden mit offenen Armen aufgenommen und dringend benötigte Arbeitskräfte aus den ehemaligen Kolonien geholt hat. Deren Integration ist aber in vielen Fällen nicht wirklich gelungen. Und ein zunehmender Teil der französischen Bür­ge­r*in­nen sieht heute in einer fremdenfeindlichen und oft rassistischen Rechten die „einzige Alternative“.