: Kretschmanns Tunnelblick
Winfried Kretschmann ist seit einem Jahr im Amt. Üblich wäre jetzt, eine Bilanz seiner Zeit als Ministerpräsident zu ziehen. Die Kontext:Wochenzeitung macht das nicht, sondern geht zurück in die Siebziger, zurück zum „Tunnelblick, der sich jeder Realität verweigert“. Der 63-Jährige meint damit seine Mao-Phase, in der er als Verfassungsfeind nicht verbeamtet werden sollte. Am Ende hat ihm der Protest gegen den Tunnelbahnhof zur Macht verholfen
von Hermann G. Abmayr
Ich bin ein Verfassungsfreund“, sagt Winfried Kretschmann heute, wenn er auf die Zeiten angesprochen wird, als er in Esslingen vor den Betrieben frühmorgens versucht hat, die Kommunistische Volkszeitung zu verkaufen. Der Wechsel zu den Maoisten kam Anfang der 70er-Jahre etwas abrupt. Von der katholischen Studentenverbindung Carolingia sei er aber nicht im Groll geschieden, erinnert sich George Turner, damals Rektor der Universität Stuttgart-Hohenheim. Turner ist wie Kretschmann im Herbst 1970 nach Hohenheim gekommen. Und da der junge Biologie- und Chemiestudent zeitweise Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) war, lernten sich die beiden näher kennen.
Kretschmann engagiert sich zunächst in der Kommunistischen Hochschulgruppe/Marxisten-Leninisten und verteilt deren Zeitung Roter Pfeil. Die Gruppe gehört zum Kommunistischen Arbeiterbund Deutschland (KABD) und ist besonders im Schwabenland aktiv. Sie wird sich als eine der wenigen maoistischen Kadertruppen nie auflösen. Inzwischen firmiert sie unter dem Namen Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD).
Bibelzitate für KBW-Flugblätter
Ende 1973 wechselt „Kretsch“, wie ihn die Freunde nennen, zum Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), der gerade gegründet worden war und später noch eine wichtige Rolle bei den Grünen spielen sollte. Kretschmanns Studentengruppe an der Uni in Hohenheim ist die erste Keimzelle des KBW in Stuttgart. Nicht mehr Kirchen- und Wanderlieder singt der Mao-Jünger jetzt, sondern Arbeiterlieder aus einer anderen Zeit. Aus der katholischen Kirche ist der Maoist, der heute dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken angehört, inzwischen ausgetreten, doch bibelfest ist er immer noch. Ob bei der Diskussion während der Marx-Lektüre oder beim Verfassen von Flugblättern, so ein Kommilitone von damals, „Kretsch“ habe gerne auch mal ein Bibelzitat verwendet.
Dabei ist längst das kleine rote Buch zum neuen Katechismus der jungen Leute geworden, jene „Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung“, die der Münchner Trikont-Verlag hunderttausendfach in deutscher Sprache verbreitet. Verleger der „Mao-Bibel“ sind Herbert Röttgen und Gisela Erler. Erler wird später seine Mitstreiterin bei Fraktionskämpfen innerhalb der grünen Partei. Heute residiert sie im Staatsministerium in der Villa Reitzenstein als Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung.
Kretschmann fällt schon damals als Redner durch seine „extreme Langsamkeit“ auf. Er spricht nicht nur an der Uni Hohenheim, sondern auch in der Stuttgarter Innenstadt. Zum Beispiel als Vertreter des Chile-Komitees, das sich nach dem blutigen Militärputsch gegen Präsident Salvador Allende gebildet hatte. Doch im Gegensatz zu Berlin oder Tübingen sind die Studenten in Hohenheim Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre wenig renitent. Das gilt auch für Winfried Kretschmann, den die Obergurus des KBW gerne mal als „Rechtsopportunisten“ kritisieren. Da sei selbst der Ring Christlich-Demokratischer Studenten noch unbequemer. Die linken Studenten in Hohenheim organisieren jedenfalls keine Rektoratsbesetzungen oder Sit-ins. „Und wir bekamen nie ein Verfahren an den Hals“, erinnert sich Kretschmanns damaliger Genosse Walter Havemann. Zudem sei Präsident George Turner immer gesprächsbereit gewesen. Havemann: „Er hatte ein offenes Ohr für die Studenten und Dozenten.“
So ist es nicht verwunderlich, dass Turner den AStA-Vorsitzenden Kretschmann und dessen Stellvertreter eines Tages zu sich nach Hause zum Abendbrot einlädt. Ganz in die Nähe der Villa Reitzenstein, wo damals ein „furchtbarer Jurist“ regierte, Hans Karl Filbinger, und heute der erste grüne Ministerpräsident der Republik. „Kretschmann hat seinerzeit eine lange Liste von Wünschen vorgetragen“, erinnert sich George Turner. Sohn Sebastian saß auf dem Schoss des Jungkommunisten. Jener Sebastian Turner, der jetzt Oberbürgermeister werden will. „Es war ein nettes Gespräch“, sagt Turner senior. Kretschmann habe sich tadellos benommen. Beim Abschied habe er gesagt: „Das sage ich ihnen: Sie korrumpieren mich nicht.“ Als AStA-Vorsitzender habe er alles sehr ernst genommen. „Und den Blödsinn, den er geredet hat, hat er auch gemacht.“
Traumatische Erfahrung im katholischen Internat
Blödsinn nennt es Turner. Kretschmann sagt dazu im Interview mit dem Stern-Redakteur Arno Luik „Tunnelblick“. Ein Blick, der sich jeder Realität verweigert habe. Ein „visionärer Overkill“, mit dem er eine Zeit lang herumgelaufen sei. Es sei eine Regression gewesen, ein Rückzug auf eine frühere Entwicklungsstufe. Kretschmann hatte traumatische Erfahrungen im Internat der katholischen Ordensgemeinschaft der „Kongregation des Heiligen Erlösers“ in Riedlingen, wo es statt Erlösung regelmäßige „Prügelorgien“ gibt. Und wo die Patres den Jugendlichen mit dem Fegefeuer und der Hölle drohen. Und die Bundeswehrzeit in Ingolstadt empfindet Kretschmann wie „ein Regiment von Schleifern“, schreiben seine Biografen Peter Henkel und Johanna Henkel-Waidhofer. Da kann er sich beim Froschkuttel-Essen in Riedlingen an der Donau oder beim „Bräuteln“ in Sigmaringen-Laiz noch so austoben und „Freut euch des Lebens“ singen, die schwäbisch-alemannische Fasnet reicht dem jungen Mann nicht. Aber dann folgt dem antiautoritären Aufschrei der Rückzug in das extrem autoritäre Milieu einer Kaderpartei, die ihre Mitglieder mit dem Fegefeuer „Ausschluss“ bedroht. So schließt „Kretsch“ den Genossen Michael Kienzle, heute Gemeinderat der Grünen in Stuttgart, wegen „bürgerlicher Abweichungen“ aus. Wie man „in eine solche Sektenmentalität“ gerät, beschäftigt den heutigen Ministerpräsidenten noch immer.
Doch eigentlich will Kretschmann damals die Welt verbessern, und als Weltverbesserer versteht er sich noch heute. Die Verbesserer hatten es in der Ära von Ministerpräsident Hans Karl Filbinger allerdings nicht leicht. Vor allem sollten sie vom Staatsdienst ferngehalten werden. So wie es der Radikalenerlass der Ministerpräsidenten der Länder 1972 verordnet hatte. Für Kretschmann und viele andere hatte dies existenzielle Folgen. 1975 legt er die erste Dienstprüfung ab, wird zum Studienseminar nach Esslingen und ans dortige Mörike-Gymnasium geschickt. Doch der Verfassungsschutz hatte eine Akte über den Revoluzzer angelegt. Denn es bestehe der Verdacht, dass er nicht jederzeit die freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigen werde. Einen Tag vor der Vereidigung teilt ihm das Oberschulamt deshalb mit, „er könne nicht eingestellt werden, da die Überprüfung noch nicht abgeschlossen sei“. So steht es in einer Dokumentation, die damals 64 Berufsverbotsfälle in Baden-Württemberg beschreibt. Ein schwarzer Tag für den Lehramtsanwärter und jungen Familienvater.
Verfassungsschutzakte über Kretschmann
Kretschmann darf sein Referendariat schließlich doch noch antreten. Doch die Akte beim Verfassungsschutz bleibt bestehen. Wenige Monate vor seiner zweiten Prüfung dann erneut der Schock: Kretschmann soll nicht in den Schuldienst übernommen werden. Als seine Kollegen am Friedrich-Eugens-Gymnasium in Stuttgart, wo er inzwischen unterrichtet, dies erfahren, solidarisieren sie sich. Der Mathematik- und Physiklehrer Herwig Janicek verfasst ein Protestschreiben, sammelt Unterschriften und schickt sie ans Kultusministerium. Zitat: „Wir kennen Herrn Kretschmann als ruhigen, zurückhaltenden, vernünftigen und in keiner Weise ,radikalen‘ Kollegen.“ Er habe versichert, „dass er nicht einer der von den Behörden als ,verfassungsfeindlich‘ eingestuften Organisationen angehört“. Janicek, der GEW-Vertrauensmann und Personalrat ist, und seine Kollegen bitten „deshalb dringend, Herrn Kretschmann ins Beamtenverhältnis auf Probe mit vollem Lehrauftrag zu übernehmen“.
Trotzdem bekommt Kretschmann nach bestandenem pädagogischem Staatsexamen keinen Platz an einem staatlichen Gymnasium. Er kann sich nur noch an Privatschulen bewerben und unterrichtet bei der Stuttgarter Kosmetikschule im Erdgeschoss der Werastraße 10. Heute gehört das Stockwerk der Initiative Die AnStifter, die vor allem über ihren Initiator und Koordinator Peter Grohmann bekannt geworden ist. Der Autor und Kabarettist und seine Freunde denken bereits darüber nach, ob sie an dem Gebäude ein Schild anbringen sollen, auf dem stehen könnte: „Hier unterrichtete einst Winfried Kretschmann an einer privaten Kosmetikschule. Er ist der erste Ministerpräsident, der vom Radikalenerlass der Ministerpräsidenten im Jahr 1972 betroffen war.“
Die Schülerinnen seien damals begeistert von Kretschmann gewesen, erinnert sich Brigitte Brüggestrat, die Inhaberin der Kosmetikschule. Und er habe sich unendlich viel Mühe gegeben: „Bringen Sie mal jungen Frauen Physik und Chemie bei. Das sind genau die Fächer, die sie nicht mögen. Ich weiß, bei einer Schülerin war er ganz verzweifelt. Da hat er gesagt, wenn die's nicht begriffen hat, als Letzte, dann habe ich es falsch erklärt.“
Kretschmann hatte die langen Haare, die noch bei der Abiturfeier trug, längst geschnitten. „Er trug nicht den lustigen Bürstenhaarschnitt von heute, sondern einen Pagenschnitt“, sagt Brigitte Brüggestrat. Er habe meistens ein kleines rotes Büchlein in der Tasche gehabt. Aber er habe nie versucht, die Schülerinnen zu indoktrinieren. „Kretschmann war so rot, wie es nur ging. Doch er war der beste Pädagoge, den ich je hatte.“ Und als er wieder einmal zu einer Anhörung zum Oberschulamt gehen musste, ermahnte ihn Brüggestrat: „Zieh bloß einen Anzug an.“ Ratschläge für die Anhörungen bekommt Kretschmann auch von den Kollegen des GEW-Ausschusses junger Lehrer, die sich regelmäßig im Gewerkschaftshaus treffen.
George Turner setzte sich für Kretschmann ein
Dem Oberschulamt liegen neben den Verfassungsschutzberichten und der Resolution der Lehrer des Friedrich-Eugens-Gymnasiums jetzt auch zwei Stellungnahmen bedeutender Persönlichkeiten vor. Waldemar Bauer, der Leiter des Studienseminars in Esslingen, ein Liberaler der alten Schule, setzt sich für seinen ehemaligen Referendar ein. Und Unipräsident George Turner. „Denn erstens war der Kretschmann nicht mehr in diesem Verein und zweitens habe ich ihn als sehr zuverlässig kennengelernt. Er war vielleicht ein bisschen versponnen.“
Schließlich schafft „Kretsch“ doch noch den Sprung in die staatliche Schule. Ab Herbst 1978 darf er am Theodor-Heuss-Gymnasium in Esslingen unterrichten. Ein Jahre später ist der verbeamtete Weltverbesserer bei der Gründung der Grünen in Baden-Württemberg dabei, dem ersten Landesverband einer Partei, die sich damals als „Anti-Parteien-Partei“ versteht. Und schon 1980 ziehen die Grünen in den Landtag ein. Der ehemalige KBW-Kader Kretschmann wird Abgeordneter. Und er wird nicht der einzige frühere Mao-Anhänger sein. Doch manch einer braucht noch Jahre, bis er den Tunnelblick des KBW durch einen grünen ersetzt.
Zum Beispiel Ex-KBW-Chef (bis 1982) Joscha Schmierer. Der gebürtige Stuttgarter schafft es später – der KBW löst sich 1985 selbst auf – bis zum Auswärtigen Amt, wo er unter Außenminister Joschka Fischer bis 2005 im Planungsstab arbeitet. Der Chefdenker und der frühere Sponti (und Steineschmeißer) Fischer hatten längst ihren jeweiligen „Tunnelblick“ abgelegt und waren in der Realpolitik angekommen. Genauso wie der langjährige Bundesvorsitzende der Grünen und heutige Europa-Abgeordnete Reinhard Bütikofer. Oder wie Ralf Fücks – früher Umweltsenator in Bremen, inzwischen Chef der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung. Beide begannen ihre Politkarriere beim KBW in Heidelberg.
Winfried Kretschmann, der im KBW nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, konnte mit Leuten wie Joscha Schmierer und Joschka Fischer nicht viel anfangen. Der „Moses von Sigmaringen“ (Die Zeit) bleibt nach den jugendlichen Ausbruchsversuchen fest verwurzelt in seiner schwäbischen Heimat, im Kirchenchor und im Schützenverein. Nur seine heutige Popularität kann mit der des früheren Außenministers verglichen werden. Der Tunnelbahnhof hat sie möglich gemacht. Erst bei der Landtagswahl und dann bei der Volksabstimmung über den Finanzierungsanteil des Südweststaates an Stuttgart 21.
Viele Baden-Württemberger mögen den Mann mit der Leidensmine und der bedächtigen Art zu sprechen. Sie mögen ihn auch, weil er das Kreuz der Demokratie auf sich nimmt und in der Landeshauptstadt gegen seine Überzeugung einen höchst umstrittenen Tiefbahnhof bauen will. Nur die Stuttgarter Bürgerbewegung stört dieser neue Tunnelblick ihres einstigen Hoffnungsträgers. Sie hofft, dass es kein Licht am Ende des Tunnels geben wird – schon wegen des Tunnelblicks der Deutschen Bahn AG, der sich jeder Realität verweigere.
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