Apartheid? Echt jetzt?

Vor einem Jahr feierte Black Lives Matter den Terrorangriff der Hamas auf Israel als Widerstand. Nun aber beginnt die Unterstützung der Schwarzen Community für die Causa Palästina zu bröckeln. Wie kommt es zum Sinneswandel?

Martin Luther King im März 1964 Foto: Fo­to: Adoc-Photos/pbk

Von Michaela Dudley

Wenn Leute ‚Zionisten‘ kritisieren, meinen sie Juden“, warnte Martin Luther King. Seine Stimme schwang bei dieser Gelegenheit mit besonderer Dringlichkeit: Jedwede Silbe klang wie ein Hammerschlag, der aufrüttelte und zur Reflexion zwang.

Oktober 1967 an der Harvard-Universität. Sit-ins, Demos und Besetzungen prägten, wie heute wieder, das Bild auf dem Campus. King unterhielt sich mit den Gelehrten Seymour Lipset und Marty Peretz über das Fiasko in Vietnam und nicht zuletzt über den Sechstagekrieg im Nahen Osten. Ein afroamerikanischer Student stieß dazu und tätigte eine israelkritische Bemerkung, die King als judenfeindlich empfand. Der Historiker Martin Kramer berichtet, King habe dem jungen Mann wütend entgegnet: „Rede nicht so! Das ist antisemitisch!“

Kings Verachtung für den Judenhass war tief verwurzelt. Zu seinen Mitstreitenden gehörten die Rabbiner Joachim Prinz und Abraham Heschel. Prinz und Heschel, die der Gestapo in die Hände gefallen waren, hatten den Holocaust nur knapp überlebt.

Für King, der 1959 Jerusalem besucht hatte, kam es nicht in Frage, mit dem Existenzrecht Israels zu spielen. 1968 betonte er: „Jegliches Gerede von der Vertreibung der Juden ins Mittelmeer, wie wir es in den letzten Wochen oder Jahren gehört haben, ist nicht nur unrealistisch, sondern es ist selbstmörderisch für die ganze Welt, und ich halte es auch für schrecklich unmoralisch.“

Im Strom der Zeit verebbte jedoch die Resonanz auf Kings Botschaft. We shall overcome wurde von From the river to the sea verdrängt. So wundert es nicht, dass 55 Jahre nach Kings Ermordung die Bewegung Black Lives Matter (BLM) den am 7. Oktober 2023 von der Hamas verübten Terrorangriff auf Israel begrüßte. BLM postete voller Schadenfreude eine Illustration, die einen Fallschirmjäger mit palästinensischer Fahne darstellte, eine geschmacklose Anspielung auf das Massaker auf das Musikfest Supernova Rave. Andere zogen nach. Es erinnert an James Baldwins provokative Warnung: „Schwarze sind antisemitisch, weil sie gegen Weiße sind.“ Prominente wie Kanye West, Dave Chappelle und Ta-Nehisi Coates traten mit auffälliger Israel-Kritik nach, ohne der jüdischen Community auch nur einen Hauch aufrichtiger Empathie zu zeigen. Claudine Gay, Harvards erste afroamerikanische Präsidentin, antwortete auf antisemitische Vorfälle an ihrer Uni mit Relativierungen und Gleichgültigkeit.

Doch ausgerechnet an den Unis ist nun ein Umdenken zu erkennen. Die Black Student Union (BSU) der University of Michigan hat sich jüngst von der propalästinensischen Tahrir Coalition losgesagt. Denn die BSU habe sich innerhalb jener Koalition einer systematischen Diskriminierung ausgesetzt gesehen. „Es ist jedoch zunehmend offensichtlich geworden, dass Schwarze Identitäten, Stimmen und Körper in dieser Koalition nicht geschätzt werden, und deshalb müssen wir uns zurückziehen“, heißt es in dem Statement.

Ähnlich negative Erfahrungen werden an Hochschulen zwischen New York und Los Angeles gesammelt. Afroamerikanische Studierende in der Free-Palestine-Bewegung fühlen sich wie Tokens oder Türsteher. Schwarze haben das Gefühl, unterwürfig grinsend an der Pforte stehen zu müssen, während White Saviors in Kufiyas hereinstolzieren, gegen die kulturelle Aneignung predigen und von der Führung mit offenen Armen empfangen werden. In der Mensa bezeichnen Arabischsprachige ihre schwarzen Kom­mi­li­to­n:in­nen als abeed („Versklavte“). Gesehen wollen die Orga-Teams lieber mit weißen Angehörigen der Jewish Voices for Peace. Es wird gewitzelt, dass Schwarze eh nur wegen der Wassermelone, des Symbols der propalästinensischen Bewegung, mitmarschieren wollen.

Damit wird ein aus der Jim-Crow-Ära stammendes Klischee bedient, das Schwarze als faule Halbmenschen darstellt, die wegen ihrer Armut auf billige Lebensmittel wie Wassermelonen angewiesen sind. Und so sehr die Intifada die „Dekolonialisierung“ als Ziel auch betont, ist sie kaum dazu bereit, die 1.300 Jahre lange Geschichte des arabischen Sklavenhandels aufzuarbeiten.

Dass es sich um eine Zäsur handelt, verraten die erhitzten Streitgefechte, die beispielsweise auf Tiktok zu erleben sind. Auf Instagram ruft die queere Panafrikanistin Afeni X verzweifelt dazu auf, das Bündnis mit Palästina nicht weiter zerbröckeln zu lassen. Ihre Durchhalteparolen finden aber wenig Anklang. Heftig erwidert man, sie betreibe „White-Washing für Ras­sis­t:in­nen mit brauner Hautfarbe“. Andere konfrontierten sie mit der brutalen, selbst von Amnesty International bestätigten LGBTQ-Feindlichkeit der Hamas. Eine Userin mahnt überdies, keine Schwarze Mama solle ihre Kinder zu Mär­ty­re­r:in­nen des Islamismus umerziehen lassen.

Die Anspielung ist auf die Terrorcamps für Kin­der­sol­da­t:in­nen, die Amnesty International seitens der Hamas angeprangert hat. Im Gegenzug werfen Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen vor, es seien häufig Black GIs, die den Krieg gegen muslimische Länder führen. Schwarze wiederum kontern, muslimische Terroristen wie Boko Haram haben auch Abertausende afrikanische Menschen auf dem Gewissen. Und warum darf die Causa Palästina die weitaus größeren Tragödien im Kongo oder in Sudan verdrängen?

Die Hinrichtung zweier Tansanier durch die Hamas am 7. Oktober 2023 wirkt auch nach. Einer der beiden, Joshua Mollel, ein Agrar-Praktikant aus dem Kibbuz Nahal Oz, wurde sogar vor laufender Kamera rassistisch schikaniert, ehe seine Entführer ihn erschossen. So hatte der KKK den Schwarzen Aktivisten James Earl Chaney 1964 in Mississippi gelyncht, und seine weißen jüdischen Kollegen Andrew Goodman und Michael Schwerner waren mit ermordet worden. Solche historischen Bezugspunkte veranlassen viele Afro­ame­ri­ka­ne­r:in­nen über jene Zeiten nachzudenken, in denen jüdische Menschen ihr Leben riskierten, um Schwarzen in den Südstaaten bei der Wahrnehmung des Wahlrechtes zu helfen.

Im aktuellen US-Wahlkampf sorgt der Gazakrieg für eine weitere Dynamik. Die arabische Community wirft Kamala Harris, die mit einem Juden verheiratet ist, „Israel-Hörigkeit“ vor. Wahrhaftig verteidigt Harris das Existenzrecht des jüdischen Staates, und hat jüngst zwischenrufende propalästinensische Demonstrierende scharf zurecht gewiesen.

Seither wird die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten mit rassistischen Memes und Emojis bombardiert, die eindeutig aus dem propalästinensischen Lager kommen. Wie dereinst Condoleezza Rice, die 2006 in der palästinensischen Tageszeitung Al-Quds als ein mit Affenbaby geschwängertes Girl karikiert wurde.

Auch in Deutschland nimmt man die mittlerweile differenzierte Betrachtung der Causa Palästina zur Kenntnis.

Für einige von uns stand sogar von Anfang an fest, dass die angestrebte Allianz problematisch war. Dazu zählen die zwei nichtjüdischen Afrodeutschen Elisa Aseva, 44, und Patrice ­Poutrus, 63, die hier in Berlin den Schwarzen Tisch gegen Antisemitismus gegründet haben.

Neben ihrem engagierten Plädoyer für mehr Solidarität mit jüdischen bzw. israelischen Menschen bekunden die Buchautorin und der Historiker, und zwar aus antifaschistischer Perspektive, ihre „Ablehnung gegenüber politisch-islamistischen Kräften“. Der Historiker Poutrus findet es zudem problematisch, das propalästinensische Demonstrierende „jenseits von Empirie und Kontext“ von Apartheid reden.

Zurück zu der eingangs erwähnten Auseinandersetzung zwischen Martin Luther King und dem schwarzen Studenten. Diese geschah am 27. Oktober 1967, meinem 6. Geburtstag. Es war ein Freitag. Meine Mutter holte mich von der Schule ab, und wir flitzten zum Kinderladen von Saba Jake, einem alten jüdischen Händler, der wegen Schabbats bald schließen sollte. Wir duckten uns unter den halb heruntergelassenen Rollläden und traten ein. Mein bestelltes Geschenk, ein Reliefglobus der Welt, war eingetroffen, und Saba Jake packte diesen kurz aus. Er zeigte mir, wo Israel lag.

Der jüdische Staat war winziger und schmaler als sein kleiner Fingernagel. Ich bekomme noch heute ein Klößchen im Halse, wenn ich an Saba Jakes melancholisches Lächeln zurückdenke.