Bilanz von Bundestrainer Nagelsmann: Vom Feinschleifer zum Pragmatiker

Nach einem Jahr ist das deutsche Fußballnationalteam und Julian Nagelsmann kaum wiederzuerkennen. Die Wandlungsfähigkeit des Trainers sticht hervor.

Nagelsmann stützt sich auf einem Plastistab beim Training auf

Und er sah, dass es gut war: Nagelsmann betrachtet beim Training sein Werk Foto: Christian Charisius/dpa

Vom Notkader ist in diesen Tagen vermehrt die Rede, weil Julian Nagelsmann für die beiden Länderspiele gegen Bosnien und Herzegowina und die Niederlande sieben Spieler ersetzten muss. Vor einem Jahr, als der Bundestrainer am 14. Oktober 2023 seinen Einstand gab, übernahm er eine Mannschaft, die unabhängig von der Zahl der Spieler, die zur Verfügung standen, als Notkader betrachtet wurde. Die Angst vor einer weiteren Blamage ging um – und das auch noch bei der Heim-EM.

Jüngste Berichte aus der Mannschaftskabine zeugen von einer völlig anderen Gefühlswelt. Allen Ausfällen zum Trotz lautet die Botschaft von Nagelsmann an seine Spieler: „Die Gegner müssen wieder Angst vor uns haben.“ Siege müssten eine Selbstverständlichkeit sein, damit man in zwei Jahren Weltmeister werde. Die Bild-Zeitung zitierte mal wieder aus einer „Geheim-Ansprache“.

Vor einem Jahr wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, es war nur noch Arbeit auf Sicht angesagt. Wegen der unsicheren Lage wollten sich sowohl der DFB als auch der junge Vereins­trainer Nagelsmann nicht länger als ein Dreivierteljahr bis nach der EM aneinander binden. Die nun einjährige Amtszeit weist also schon auf den unerwarteten Erfolg von Nagelsmann hin. Seine Bilanz ist eindrücklich.

Das erste Lob, das Nagelsmann für sein Team nach den ersten beiden Partien gegen die USA und Mexiko übrig hatte, war wohlwollend auf deren steile Lernkurve gemünzt. Kurz darauf, als nach mangelhaften Auftritten gegen die Türkei und Österreich alle Kurven nach unten zeigten, war das Wohlwollen der deutschen Medien und Fans gegenüber dem neuen Trainer schon wieder aufgebraucht.

Kapriziöse Einfälle

Die steile Lernkurve von Julian Nagelsmann sollte nun zum Schlüssel des Erfolgs werden. Fiel er anfangs noch, wie von nicht wenigen befürchtet, mit kapriziösen Einfällen auf, den Stürmer Kai Havertz etwa auf die Außenverteidigerposition zu versetzen, verzichtete er recht schnell auf vermeintliche taktische Geniekniffe und verwandelte sich binnen kürzester Zeit zum Oberpragmatiker. Wiederberufung des Stabilitätsankers Toni Kroos, klare Rollenzuweisungen, einfache Ansagen, eine Schwerpunktsetzung auf Teambuilding und Mentalitätsstärkung zeitigten schnell die ersten positiven Ergebnisse.

Der 37-Jährige, der sich mit großem Eifer in täglicher Kleinarbeit den Ruf als Fachmann des taktischen Feinschliffs erarbeitet hatte, zeigte, dass er auch mit wenigen Handgriffen und Trainingseinheiten ein in Not geratenes Team in die Spur bringen kann. Diese Wandlungsfähigkeit haben Nagelsmann nicht viele zugetraut.

In den nächsten Monaten wird er sich ein weiteres Mal neu erfinden müssen. Nach dem Wegfall von Stützen wie Manuel Neuer, İlkay Gün­do­ğan, Thomas Müller und Toni Kroos sind größere Umbau- und Aufbauarbeiten bis zu WM 2026 angesagt. Statt Not- und Stabilisierungmaßnahmen sind andere Herangehensweisen gefragt, die weitere Perspektiven öffnen.

Aber die Ausgangslage ist ungleich komfortabler. Nagelsmann hat sich einen großen Kreditrahmen erarbeitet. Die so gut überstandene Not hat das Team auf besondere Weise zusammengeschweißt. Von diesem Geist kann und will Nagelsmann zehren. Die vielen Ausfälle zwingen ihn nun zu größerer Blutauffrischung als ihm lieb ist. Das könnte eine glückliche Fügung sein. Angesichts so vieler Ausfälle wird es ihm eh niemand verübeln, sollte es gegen Bosnien und Herzegowina und die Niederlande holprigere Auftritte geben. Und im besten Fall tun sich wieder neue Perspektiven auf.

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Jahrgang 1971, bis Ende März 2014 frei journalistisch tätig. Seither fest mit dem Leibesübungen-Ressort verbunden.

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