„Es fehlt eine Vision“

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer befasst sich seit Jahrzehnten mit Autoritarismus. Im Interview spricht er über die Attraktivität der AfD, warum Abschreckung nicht hilft und wie Demokratie sich verteidigen kann

Blick nach Osten, und Osten ist rechts? Bildschirm mit Björn Höcke Foto: M. Golejewski/Adora Press

Interview Gareth Joswig

taz: Herr Heitmeyer, die extrem rechte AfD hat erstmals eine Landtagswahl gewonnen und besitzt nun in zwei Länderparlamenten eine Sperrminorität. Wie konnte das passieren?

Wilhelm Heitmeyer:Die etablierten Parteien haben im Umgang der AfD einen Kardinalfehler begangen: Anstatt sich mit ihrer Attraktivität auseinanderzusetzen, hat man sich mit Abschreckungsformeln begnügt und versucht, sie über Begriffe wie Rechtspopulismus, Rechtsextremismus, Nazipartei und Faschismus zu stellen. Diese Abschreckungsstrategie ist gescheitert. Ich bin immer völlig entgeistert, wenn in jedem zweiten Artikel noch immer die verharmlosende Rede von Rechtspopulismus ist. Aber auch, wenn Klingbeil und Wüst mit „Nazi-Partei“ um die Ecke kommen. Das wird der Attraktivität und damit auch Gefährlichkeit der AfD nicht gerecht. Es fehlt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Neuen, was die AfD tatsächlich geschaffen hat. Deswegen definiere ich die AfD als Autoritären Nationalradikalismus. Erst dadurch lässt sich die Attraktivität und die massive Ausbreitung erklären.

taz: Was ist da der Vorteil?

Heitmeyer: In dieser Kennzeichnung stecken alle Kriterien, die attraktiv sind für viele Wähler und nicht zuletzt für die junge Generation – vor allem für junge Männer, die die männlichkeitsorientierte Partei in hohem Maße gewählt haben. Das Autoritäre zielt auf das Gesellschaftsmodell, das Nationalistische transportiert Überlegenheitsvorstellungen der deutschen Kultur und Geschichte. Das Radikale zeigt sich in der aggressiven Kommunikation mit Feindbildern, die an gesellschaftlich schon lange vorhandenen Einstellungsmuster der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit anknüpfen.

taz: Bei den letzten fünf Landtagswahlen erzielte die AfD im jüngsten Wäh­le­r*in­nen­seg­ment um die 18 Prozent im Westen um die 30 Prozent im Osten. Warum ist die AfD derzeit besonders attraktiv für junge Menschen?

Heitmeyer: Das autoritäre Gesellschaftsmodell beinhaltet zum Beispiel die Ausschaltung von kultureller und sexueller Vielfalt. Bei jungen Männern mit einem Habitus, der oftmals auf Stärke, Dominanz und Überlegenheit ausgerichtet ist, fällt das auf fruchtbaren Boden – insbesondere, wenn ihre eigene Lebenssituation von Unterlegenheitsgefühlen durchsetzt ist. Hier setzt die AfD mit Maximilian Krah an, der auf Tiktok herausposaunt: Echte Männer sind rechts, dann klappt das auch mit der Freundin.

taz: Welche Rolle spielt die Sozialstruktur?

Heitmeyer: In Ostdeutschland kommt die sozialgeografische Struktur der AfD massiv entgegen: Kleinstädte und kleine Gemeinden zeichnen sich durch soziokulturelle Homogenität und einen hohen Konformitätsdruck aus. Ebenso gibt es viele Wegzüge an vielen Stellen – gerade von jungen Frauen, die meist ja schulisch besser qualifiziert sind als junge Männer. Zahlreiche junge Männer bleiben zurück.

taz: Inwiefern spielen DDR-Erfahrungen und der lange Schatten der Baseballschlägerjahre eine Rolle?

Heitmeyer: Die intergenerationale Weitergabe rechter und autoritärer Positionen ist ebenfalls wichtig. Die Elterngeneration hat einiges hinter sich durch die Umbrüche von der DDR-Gesellschaft zur bundesrepublikanischen. In der DDR gab es mehr Sicherheit und weniger Freiheit. Heute gibt es mehr Freiheit und weniger Sicherheit. Letzteres beinhaltet mehr individuelle Anstrengungen und Risiken. Man hat damals nicht begriffen, wie die DDR-Gesellschaft mit ihren sozialen Netzen und Strukturen konstruiert war. Die Folgen waren leere Institutionen in den 1990er Jahren. Damals konnte der Rechtsextremismus alter Prägung zahlreiche sozialräum­liche Machtversuche durchführen – durchaus mit Erfolg, wie man in den Baseballschlägerjahren sehen konnte. Das hat Nachwirkungen seit dem Jahr 2000 bis heute.

taz: Wie groß ist denn die Rolle von Krisen?

Heitmeyer: Durch Krisenerfahrungen kann die AfD in einem Teil der Bevölkerung Ängste vor Kontrollverlusten instrumentalisieren. Hier setzt die AfD an und posaunt: Wir stellen die Kontrolle wieder her. Wenn historische Erfahrungen von Brüchen hinzukommen, sind solche Parolen fruchtbar.

taz: Wurden die ländlichen Räume vernachlässigt?

Heitmeyer: Ja, die Repräsentationslücken sind immer größer geworden. Die Bevölkerung in ländlichen und kleinstädtischen Räumen ist zu einem großen Teil gar nicht mehr wahrgenommen worden. Und wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts. Hier fruchtet eine weitere AfD-Parole: Wir machen euch wieder sichtbar.

taz: In digitalen Räumen führt die AfD ebenso.

Heitmeyer: Die sehr geschickte und rabiate politische Strategie gerade im Medienbereich spielt eine große Rolle. Die AfD ist die modernste Digitalpartei, die um sich herum längst eine eigene Medienwelt geschaffen hat. Die etablierten Parteien haben auch hier verpasst, der effektiven Kommunikationsstrategie etwas entgegenzusetzen. Die AfD betreibt die Emotionalisierung aller Probleme als Kon­trollverluste. Dagegen ist die Wirkung mit rationalen und problemangemessenen, komplexen Argumenten deutlich geringer.

taz: Wie könnten die etablierten Parteien der Entwicklung beikommen?

Heitmeyer: Das ist natürlich die 100.000-Dollar-Frage, auf die es bekanntlich keine einfache Antworten gibt. Zuerst stellt sich für mich die Frage, ob die Politik der Schuldenbremse nicht völlig dysfunktional ist. Die Schuldenbremse funk­tioniert, aber die Infrastruktur ist oder geht kaputt – und das wird für die zukünftigen Generationen politisch und ökonomisch noch sehr viel teurer. Durch die Aufhebung der Schuldenbremse und die daraus sich ergebenden Investitions­chancen könnte auch ein zuversichtliches gesellschaftliches Klima erzeugt werden: Hier passiert was.

taz: Wie sollte man mit Repräsentationslücken umgehen?

Heitmeyer: Die müsste die Politik schließen und sich fragen, ob sie Bürger und deren Probleme eigentlich noch ausreichend wahrnimmt. Es bleibt die Frage, ob etablierte Parteien an vielen Stellen nicht zu spät kommen. Ein wichtiger Punkt ist auch die soziale Ungleichheit. Über Ungleichheitserfahrungen werden immer wieder Vergleiche mit anderen Bevölkerungsgruppen angestellt. Daraus entsteht ein Gefühl der Deprivation, also Gefühle von Benachteiligungen oder Ungerechtigkeiten, die ganz rabiate Einstellungen wie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit begünstigen, wie wir in unserer Langzeitstudie herausgearbeitet haben.

taz: Was müsste noch getan werden?

Heitmeyer: Ganz zentral ist es, die gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen zu stärken. Das zentrale Ziel der AfD ist ein Systemwechsel von innen. Sie will explizit in gesellschaftliche und staatliche Institutionen wie Justiz, Medien und Kultureinrichtungen, aber auch in die Bildung, um die Schulen unter Druck zu setzen. Es geht um Destabilisierung zur autoritären Veränderung. Es ist wichtig, dass Menschen in den Institutionen sehr viel konfliktfähiger agieren, um eine weitere Ausbreitung und Normalisierung zu verhindern.

taz: Welche Rolle kommt der Zivilgesellschaft zu?

Foto: Nele Heitmeyer

Wilhelm Heitmeyer, Jahrgang 1945, ist Senior-Professor am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, dessen Direktor er 1996 bis 2013 war.

Heitmeyer: Sie ist sehr wichtig, wobei die großen Demonstrationen bedeutsam sind, aber auch den Haken haben, dass man dort unter sich ist und die Frequenz sich nicht lange aufrechterhalten lässt. Wichtig wäre es deshalb, sich stark zu machen in den nahen sozialen Bezugsgruppen. In der Verwandtschaft, im Freundeskreis, in der Familie, dem Sportverein. Man sollte bei aufkommenden Hetzsprüchen sofort einschreiten, um wenigstens die Normalisierung zu verhindern. Es bleibt die Frage, ob wir dafür eigentlich konfliktfähig genug sind. Die möglichen harten sozialen Kosten können auch ein Ausschluss aus den sozialen Bezugsgruppen sein. Aber insgesamt gibt es keinen Königsweg.

taz: Aber das sind ja schon mal Ansätze.

Heitmeyer: Die Gesellschaft und die Probleme sind kompliziert. Jeder und jede weiß das. Man kann leider nicht einfach einen Schalter umwerfen. Politische Sozialisationsprozesse verfestigen sich und haben Folgen. Die Aufgabe der Politik wäre es vor allem, in der politischen Debatte Alternativen zur Attraktivität des Autoritären zu bieten. Es fehlt eine zuversichtliche Vision. Es braucht eine verbindende Philosophie und Erzählung über die weitere gesellschaftliche Entwicklung. Fatal ist, dass die AfD eine ganz klare Vision hat: Sie will einen Autoritären Nationalradikalismus durchsetzen. Dagegen muss man sich natürlich in Stellung bringen. Das würde uns sonst schlecht bekommen.

Welche langfristigen Bedingungen haben den Rechtsruck begünstigt?

Heitmeyer:Ich habe ja schon 2001 in dem Buch „Schattenseiten der Globalisierung“ vor negativen langfristigen Entwicklungen gewarnt. Ende der 1990er Jahre hatte die rigorose neoliberale Wirtschaftspolitik mit ihren Deregulierungen zu einem autoritären Kapitalismus mit großen Kontrollgewinnen geführt. Die nationalstaatliche Politik hatte dagegen Kontrollverluste und keinen Willen oder keine Kraft, gegen die wachsende Ungleichheit vorzugehen. Als Folgen zeichneten sich soziale Desintegrationsprozesse ab. Und auch das, was ich Demokratieentleerung genannt habe: der Apparat funktioniert, aber das Vertrauen erodiert.

Meine These war damals: Wenn das Zusammenwirken zwischen diesen ökonomischen, sozialen und politischen Prozessen nicht durchgreifend verändert wird, werden wir eine massive Rechtsentwicklung bekommen. Also, die heutigen Prozesse haben schon seit den 2000er Jahren massiv angefangen und wurde dann durch entsicherte Krisen in den Jahrzehnten danach auf Touren gebracht. Das sind langfristige Entwicklungen. Der berühmte Soziologe Ralf Dahrendorf hat schon 1997 gesagt: Wir stehen wahrscheinlich vor einem neuen autoritären Jahrhundert.