Die lebenswerte Stadt war 79 n.Chr.

Der Fotograf H. G. Esch dokumentiert die Architektur von heute. Wie sein Blick auf die römische Antike ausfällt, zeigt ein Fotoband

Industrie­schlote oder antike Ruine? Aus: „Pompeji – Der architek­tonische Blick“ Foto: H. G. Esch, © Ministero della Cultura. Parco Archeologico di Pompei

Von Tom Mustroph

Etwas Manhattan steckt durchaus in Pompeji und umgekehrt etwas Pompeji auch in Manhattan. Das meint der Architekturfotograf Hans Georg Esch. Der hat die New Yorker Skyline umfassend abgebildet und war auch seit 2021 mehrfach in der Ausgrabungsstätte Pompeji tätig. Vom Fuße des – wieder rauchenden – Vesuvs brachte er seine Fotos mit und bündelte sie in dem Band „Pompeji – Der architektonische Blick“. Dem ist jetzt unter dem gleichen Titel auch eine Ausstellung in der Berliner Architekturgalerie ­Aedes gewidmet. Dort offen­baren sich gleich beim ersten Hinschauen überraschende Parallelen zwischen der Megacity am Hudson River und der ­einstigen römischen Provinzstadt am ­Mittelmeer, die im Jahr 79 durch Vulkanasche verschüttet wurde.

Die große Gemeinsamkeit ist die Rasterstruktur. Auf Eschs Drohnenaufnahmen von Pompeji sind Begrenzungsmauern zu sehen, die die rechteckigen Grundstücke definieren. Weitere Mauern trennen einzelne Zimmer und Räume ab. Auf den Innenhöfen gibt es viel Grün; Esch fotografierte vor allem im regenreichen Frühjahr dort. Die Aufnahmen erinnern sogar an den Speckgürtel ringsum Berlin, wie er sich beim Anflug auf Schönefeld dem Auge darbietet: Parzellen mit Häusern und Garagen, viel Rasen. Und manches römisch-antike Mosaik in Blautönen könnte auch ein Swimmingpool am Berliner Rand in Wildau sein.

Besucht man Pompeji, konzentriert man sich vor allem auf die Innenräume, die Fresken und Mosaiken. Den Blick von oben, der städtebauliche Zusammenhänge offenbart, hat man selten. Selbst Esch ist verblüfft, wie viel man aus seinen Aufnahmen ablesen kann. „Ich fotografiere ja Städte auf der ganzen Welt. In Pompeji war ich um knapp 2.000 Jahre zurückversetzt und habe festgestellt, dass damals lebenswerter als heute gebaut wurde“, erzählt er der taz. Kriterien des Lebenswerten für ihn sind: „Man hatte viele Seitenstraßen und überhaupt keine Sackgassen. Die Seitenstraßen waren verkehrsberuhigt. Da hat man sich getroffen, da wurde flaniert. Dann gab es viele Straßen mit Läden direkt an der Straße und diese großen Plätze wie das Forum Romanum, wo das soziale Leben stattgefunden hat, wo auch politische Veranstaltungen waren.“

Anzeichen für soziale Durchmischung in den einzelnen Vierteln sind ebenfalls zu entdecken. Grundrisse größerer Paläste mit mutmaßlich üppiger Ausstattung sind direkt neben kleineren Parzellen mit kleineren Häusern.

Regelrecht zeitgenössisch setzt Esch die vielen Ruinen von Tempeln und anderen öffentlichen Gebäuden in Szene. Säulen unterschiedlicher Größe ragen in den Himmel. Ganz ohne Kapitell und Dachkonstruktion erinnern sie an Schornsteine, wie man sie von verlassenen Industriebauten kennt.

Obgleich Pompeji vorher schon unglaublich oft abgebildet wurde, sorgen Eschs Fotos für eine neue Perspektive auf die Stadt. Und sie erinnern mit ihren Rastern an ein viele Jahrhunderte andauerndes, urbanes Raumprinzip, das heute vergessen scheint, außer in Berlin vielleicht.

Hans Georg Esch: „Pompeji – Der architektonische Blick“. Verlag der Buchhandlung Franz und Walther König, Köln 2024, 198 Seiten, 38 Euro; Ausstellung: Aedes Architekturgalerie Berlin, bis 16. Oktober